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Stadttagebücher

Hans Dieter Schaal

 

Verlag Edition Axel Menges, 2010

ISBN 9783936681314 , 648 Seiten

Format PDF, OL

Kopierschutz DRM

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54,99 EUR


 

Paris (S. 340-343)

Paris, 27.Oktober 2003

Die Direktoren des Goethe-Instituts und des Modemuseums haben mich zu einem Wettbewerbskolloquium nach Paris eingeladen. Im Palais Galliera soll eine große »Marlene-Dietrich«-Ausstellung stattfinden. Für mich bedeutet das zwei Tage Arbeit und zwei Tage Paris zum Vergnügen.

Schon die Busfahrt vom Flughafen Charles de Gaulle zur Endstation am Arc de Triomphe löst bei mir ein Bilder- und Erinnerungsgewitter aus. Wie oft habe ich diese weltberühmte Stadt besucht, studiert und bewundert?! Während ich vor dem Fenster im grauen Oktobernebel trostlose Peripherieindustriebauten vorbeiziehen sehe und hoffe, daß wir nicht im dichten Verkehr steckenbleiben, versuche ich mich zu erinnern.

Als erstes taucht in mir ein Erlebnis auf, das 1960 stattgefunden haben muß. Damals betrachtete ich Paris als etwas Ungeheuerliches, als ein lebendiges Wesen mit frivolem Inhalt und weltstädtischem Flair, der mich berauschte, fast schwindlig machte. Alles schien es hier zu geben: lockeres und elegantes Leben, hohe, edle Kunst, bohèmige Avantgarde und erotische Abgründe. Wie benommen streifte ich, der Gymnasiast aus einer deutschen Kleinstadt, durch die engen Gassen und über die vornehmen Boulevards.

Ab und zu traf ich meine Schwester, die sich für längere Zeit als Au-pair-Mädchen in der Stadt aufhielt, um ihre Französischkenntnisse zu vertiefen. Im Gegensatz zu mir – dafür hätte ich auch länger in der Stadt leben müssen – lernte sie tatsächlich die Sprache und kann sich seither an jeder französischen Konversation beteiligen, ohne unangenehm aufzufallen. Das ist in Frankreich besonders wichtig, da die selbstbewußten, stolzen Franzosen ungern fremde Sprachen lernen – kaum einer kann Englisch – und davon ausgehen, daß sie von jedem Ausländer verstanden werden.

Ich wohnte in einer kleinen, schäbigen Pension unweit des Gare Saint Lazare. Neben dem üblichen Touristenprogramm hat sich mir ein Erlebnis besonders eingeprägt: Als ich an der Opéra Garnier vorbeikam, entdeckte ich auf einem Plakat, daß in den nächsten Tagen die berühmteste aller Sängerinnen – Maria Callas – als »Tosca« in einer Inszenierung von Franco Zeffirelli auftreten würde. Nachts sah ich Menschen in Schlafsäcken vor dem Opernhauseingang campieren. Sie wollten am anderen Morgen als erste an der Kasse sein. Ich fragte meine Schwester, ob sie mir helfen würde, eine Karte zu ergattern. Gemeinsam gingen wir am nächsten Nachmittag zum Opernhaus. Lange Warteschlangen zogen sich über die Haupttreppe hinunter bis zur Straße. Meine Schwester, die mit ihren langen, blonden Haaren sehr attraktiv aussah, durchdrang mutig die Menschenmenge. Überrascht wichen alle zurück. Als wir den Kartenschalter problemlos erreicht hatten, war ich selbst so verblüfft, daß ich mich über nichts mehr wunderte, nicht einmal über die Tatsache, plötzlich ein Ticket für den Abend in der Hand zu halten. Später wurde ich tatsächlich eingelassen und stieg die pompösen Foyertreppen nach oben. Mein Platz befand sich im Olymp, dicht unter der Decke des gewölbten Saals. Edle Damen in weiten Roben, Nerzstolen um die nackten Schultern geworfen, erschienen schmuckglitzernd mit ihren eleganten, schwarzbefrackten Begleitern, schwebten die Treppen empor und verschwanden in den rotplüschigen Vestibülen. Im Zuschauersaal herrschte eine gespannte Atmosphäre, alle starrten auf den geschlossenen roten Vorhang, der sich bald öffnen und das Geheimnis der berühmtesten Gesangstimme der Welt offenbaren würde. Schließlich verdunkelte sich das Licht, die Menschen verstummten und begrüßten mit tosendem Applaus den Dirigenten, der aus versteckten Kellerverliesen in den dämmrigen Schummer des Orchestergrabens trat.