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Dunkle Tage, helles Leben - Roman

Nuala O'Faolain

 

Verlag Diana Verlag, 2010

ISBN 9783641043537 , 464 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Einleitung
Nuala O'Faolain, 14. Januar 2008

Ich wohne in einem Cottage im Westen Irlands, gar nicht weit vom Atlantik entfernt. Aber seit einigen Jahren - genauer gesagt, seit mein erstes Buch Are You Somebody (Nur nicht unsichtbar werden) so ein großer Erfolg in den USA war - teile ich mir meine Zeit zwischen Irland und einem Zimmer in Manhattan auf. Ich wollte die Immigranten-Energie dieser fantastischen Stadt anzapfen. Und ich wollte der Verzweiflung und Lethargie entkommen, die immer noch an den ländlichen Gebieten Irlands haftet.
Seither ist für mich das bestimmende Thema im Leben die Geschichte des Älterwerdens. Und das Älterwerden ist, meiner Beobachtung nach, auf den beiden Seiten des Ozeans eine völlig unterschiedliche kulturelle Erfahrung. Zum Beispiel: Wenn eine Frau, die aus einem traditionellen Land wie Irland stammt, nach New York fliegt, fallen die Jahre von ihr ab, sobald das Flugzeug auf der Rollbahn aufsetzt. Ich nenne das den JFK- Effekt - innerhalb von Sekunden werden aus sechzig Jahren fünfzig Jahre. Noch ein wichtiger Aspekt - die amerikanischen Frauen halten nicht viel von der Selbstverleugnung der europäischen Großmütter, sie bekämpfen das Älterwerden mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, und sie denken lieber nicht allzu viel über den Tod nach. Mir fällt auf, dass amerikanische Frauen bis ganz zum Schluss von ihrer eigenen Wichtigkeit überzeugt sind - etwas, was ich bewundere und was mir gleichzeitig nicht ganz geheuer ist. In Irland hingegen hat eine kinderlose, alternde Frau keine Funktion mehr in der »Stammeskultur« und muss sich selbst Rechtfertigungen für ihre eigene Wichtigkeit ausdenken.
Dunkle Tage, helles Leben ist aus diesen beiden Gedankensträngen entstanden. Was tut die Neue Welt mit einer Frau und für eine Frau, die von der Alten Welt geprägt ist? Und wie kann eine moderne Frau - die viel gereist ist, spannende Jobs und wechselnde Liebhaber hatte, die für nichts und niemanden verantwortlich war außer für sich selbst -, wie kann diese Frau den Herausforderungen begegnen, mit denen sie gegen Ende der mittleren Jahre konfrontiert ist, wenn die Faktoren, die bisher in ihrem Leben so zentral waren, nach und nach in den Hintergrund treten? Wie entdeckt ein Mensch neue Freuden, wenn die alten ihren Reiz verlieren?
Während die Geschichte von Min und ihrer Nichte Rosie sich immer weiter entwickelte, habe ich oft gestaunt, wie viel Spaß ich an dieser Entwicklung hatte. Ich glaube, das lag daran, dass Min - die Ältere der beiden - mit so viel Schwung und Vitalität ihre Chance ergreift, aus dem gewohnten Umfeld in Dublin auszubrechen, das ihr nichts Neues mehr zu bieten hat. Die Abenteuer, die sie in diesem Buch erlebt, haben mich ebenso entzückt wie Min selbst.
Mein Kopf gehört ihr. Aber mein Herz gehört ihrer Nichte, meiner lieben Rosie. Sie ist eine Frau, deren Bedürfnisse zu leidenschaftlich und zu komplex sind, als dass sie in Amerika befriedigt werden könnten. Also kehrt Rosie nach Irland und in die Vergangenheit zurück. Das Leben hat ihr viele Wunden zugefügt, und sie verkriecht sich in dem primitiven Haus ihres Großvaters, das neben dem Steinbruch steht, in dem er vor langer Zeit gearbeitet hat. Auf einer entlegenen, wunderschönen Halbinsel. Rosie erfährt, wie qualvoll und schwer das Leben dort war, vor allem für die Frauen. Und sie findet die harte Wahrheit über ihre eigenen Eltern heraus. Gleichzeitig begegnen ihr aber auch zahlreiche Formen von Liebe und Zuneigung: Freundschaft; ein kleiner, treuer Hund; die Schönheit der Natur; das bewusste Bemühen, Fehler wiedergutzumachen - lauter Dinge, die sie in ihrer Jugend nie besonders wichtig fand. Doch genau sie sind die Kraftquellen, aus denen Rosie Zuversicht schöpft, als sie an der Schwelle zur nächsten Etappe ihres Lebens innehält.
Tausende Meilen entfernt von ihr, in den Vereinigten Staaten, ist Min dabei, ebenfalls neue Facetten der Lebensfreude zu entdecken. Sie erlebt, wie befriedigend es ist, wenn man für seine Arbeit bezahlt wird, und welche Freiheit es bedeuten kann, zu einer wechselhaften, vielfältigen, vorurteilsfreien, unterprivilegierten sozialen Welt zu gehören. Nichte und Tante, die sehr schweigsam waren, als sie zusammen unter einem Dach lebten, lernen endlich, miteinander zu reden, nachdem sie die ihrem Alter angemessen erscheinenden Rollen abgelegt haben. Nun sind sie nur noch durch den Ozean getrennt und entwickeln sich beide zu Pionierinnen.
Natürlich gibt es auch dunklere Untertöne, und in dieser Geschichte, genau wie in meinem eigenen Leben, gehen im Laufe der Jahre viele wertvolle Dinge für immer verloren. Aber Dunkle Tage, helles Leben - mein fünftes Buch innerhalb von zehn Jahren - ist mein Roman über die Zeit, die ich als Pendlerin zwischen der Melancholie Irlands und dem Optimismus Amerikas verbracht habe. Dieses Buch möchte das feiern, was diese Jahre mich gelehrt haben: dass die Welt mit ihren unzähligen Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß so unglaublich interessant ist. Und dass man lernen kann, mit dem Schmerz umzugehen: Man muss ihn nur an einen weniger zentralen Ort im eigenen Inneren verbannen. Und dass selbst ein scheinbar hoffnungsloses Leben noch die Möglichkeit der Veränderung in sich birgt - in der Jugend, in den mittleren Jahren und überhaupt zu jeder Zeit.

TEIL EINS
Am Weihnachtsmorgen lag ich mit Leo im Bett, in einer pensione in Ancona, nicht weit vom Hafen. Das Zimmer war schlecht geheizt, deshalb kostete es mich ziemlich viel Überwindung, mich von Leos warmem Rücken loszureißen und den Arm unter der Bettdecke hervorzustrecken, um meine Tante in Dublin anzurufen.
Niemand nahm ab. Also versuchte ich es bei ihrer Nachbarin.
»Hallo? Reeny? Ja, ich bin's - Rosie. Fröhliche Weihnachten und alles Gute fürs neue Jahr! Ich bin gerade in Italien. Ja, mit einem Freund - was dachtest du - meinst du, ich bin verrückt? Es hätte sich nicht gelohnt, für die paar Tage nach Hause zu fahren, und wir kriegen nicht länger Urlaub. Hör zu, Reeny - Min geht nicht ans Telefon. Könntest du vielleicht rübergehen und hinten vom Garten zu ihrem Fenster hochrufen? Bei euch ist es doch auch schon elf, oder? Und ich weiß, dass sie zu dir zum Truthahnessen kommt, da müsste sie so langsam aufstehen, würde ich denken.«
»Ach, mach dir keine Sorgen, Min geht es gut«, beruhigte mich Reeny. »Sie war gestern Abend hier, und wir haben gemeinsam >Eastenders< angeschaut. Na ja, manchmal ist sie schon ein bisschen komisch, unsere Min. Es gibt Tage, an denen sie einfach nicht aufsteht, obwohl ihr gar nichts fehlt. Und - ich will dir ja nicht den Urlaub verderben, aber ich wollte es dir sowieso erzählen, wenn wir uns das nächste Mal sehen - neulich gab's einen kleinen Zwischenfall, weil sie ein paar Gläschen zu viel getrunken hat. Die Polizei musste sie nach Hause bringen. Min war nämlich plötzlich in der Post im Stadtzentrum, kein Mensch weiß, wie sie's geschafft hat, von unserem Pub hier in die Innenstadt zu kommen - und dort ist sie gestürzt und konnte nicht mehr aufstehen. Das heißt, ich glaube, sie wollte nicht mehr aufstehen. Sie hat allen Leuten erzählt, dass sie ein Päckchen nach Amerika schicken muss. Die Polizisten waren furchtbar nett zu ihr und haben sie bis vors Haus gefahren. Einer von ihnen hat mir erzählt, dass es gar nicht so leicht war, sie in Schach zu halten, weil sie unbedingt während der Fahrt aus dem Streifenwagen aussteigen wollte. Und wenn Min nicht so eine kleine alte Lady wäre, hätten sie ihr Handschellen anlegen müssen. Seither geht sie fast nicht mehr raus, und im Supermarkt haben sich die Frauen schon darüber unterhalten, dass es am besten wäre, wenn Rosie Barry nach Hause käme.«
»Aber Min will mich doch gar nicht dahaben!«, entgegnete ich lachend.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Reeny, und ich hörte auf zu lachen.
Reeny merkte das nicht. »Ja, so ist das eben, wenn jemand Depressionen hat«, fuhr sie fort. »Ich habe neulich eine Sendung im Fernsehen darüber gesehen. Irgendein Experte hat die These aufgestellt, dass depressive Menschen nicht wissen, was sie wollen.«
»Sag Min doch bitte, dass ich sie heute Abend anrufe. Und dass sie ans Telefon gehen soll - egal, was ist. Wie geht's dir denn, Reeny? Ist Monty über die Feiertage zu Hause?«
Monty war Reenys Sohn, ein korpulenter, schüchterner Golffanatiker, Anfang oder Mitte vierzig und seit tausend Jahren mit meiner Freundin Peggy zusammen. Sein Vater hatte die Familie verlassen, als Monty noch klein war, und meiner Meinung nach war das Golfspiel etwas, wohinter er sich verschanzte, während er versuchte, endlich erwachsen zu werden. »Sag ihm, der Weihnachtsmann bringt ihm ein Hole-in-one. Besser geht's nicht beim Golf, oder?«
Hinter Leos Schulter konnte ich ein Stückchen Adria sehen - strahlend blau, mit weißen Wellenkämmen. Es ging ein ziemlich starker Wind, der die Fensterläden laut klappern ließ. Kurz zuvor hatten wir den Versuch unternommen, miteinander zu schlafen. Uns war allerdings schnell klar geworden, dass wir beide keine besonders große Lust dazu hatten. Für unsere Beziehung war es bestimmt ein gutes Zeichen, dass wir keine Hemmungen hatten, das zuzugeben. Dennoch war es für die Psyche nicht gerade aufbauend, wenn man merkte, dass man zu wenig sexuelle Energie hatte. Und die Tatsache, dass wir noch zwei Tage in einem schlecht geheizten, öden Hotelzimmer vor uns hatten, verbesserte die Stimmung auch nicht gerade. In Ancona gab es sonst nicht viel zu tun, da die wenigen Touristenattraktionen, die man hier besichtigen konnte, während der Feiertage geschlossen hatten.
Weihnachten. Was für ein Zauber früher von diesem Wort ausgegangen war.
»Leo!« Ich schlang den Arm um seine Taille und streichelte ihn zärtlich, um ihn möglichst sanft aufzuwecken. »Leo, mein Süßer - könntest du bitte die Signora fragen, ob sie uns zwei Tassen Kaffee kocht?«
Als ich mich auf den Ellenbogen stützte, um zu überprüfen, ob meine Bemühungen erfolgreich waren, traf mich fast der Schlag: Leo lag hellwach da und starrte aus dem Fenster.
Am nächsten Tag besuchten wir ein Orgelkonzert. Es fand in einer Kirche statt, die sonst nicht mehr benutzt wurde und in der es unglaublich zog. Leo schaltete auf seinen extremen Konzentrationsmodus, wie immer, wenn er Musik hörte. Man konnte ihn dann mit sieben Nadeln piksen, und er spürte es nicht.
Irgendetwas musste sich ändern. Während ich so neben ihm saß und vor mich hin fror, schien mir das plötzlich sonnenklar. Früher waren wir - ach, ich wollte lieber gar nicht daran denken, was für ein wunderbares Liebespaar wir einmal waren. Ich konnte mir auch nicht eingestehen, dass es immer schwieriger wurde, ihn aus seiner Villa, die ein Stück landeinwärts von Ancona lag, wegzulocken. Dabei hatte er seinen Versuch, sie in ein luxuriöses Bed & Breakfast zu verwandeln, längst aufgegeben.
Und weil ich nicht über die Liebe nachdenken wollte, dachte ich an Min.
Jemand musste ein Auge auf sie haben, wenn es tatsächlich stimmte, dass sie anfing, sich in der Öffentlichkeit zu blamieren. Reeny verwaltete zurzeit eine Wohnanlage in Spanien und wohnte zum ersten Mal nicht mehr ständig im Nachbarhaus. Früher, als die beiden noch jünger waren, kam Reeny immer sofort angelaufen, wenn irgendetwas nicht stimmte. Und auch sonst.
Dazu kam, dass in ein paar Monaten mein Vertrag auslief. Ich hatte einen Job in Brüssel, bei der Informationsabteilung der EU, für die ich Texte verfassen musste. Bei Ablauf des Vertrags stand mir eine gewisse Pauschalsumme zu - genug Geld, um mich so lange über Wasser zu halten, bis der nächste Auftrag des Weges kam. Manche meiner Kollegen gingen mit fünfundfünfzig in den Ruhestand. Das waren die Leute, die ihre Arbeit nicht mochten und die gut sparen konnten. Ich konnte mich noch nicht aus dem Berufsleben zurückziehen, und ich wollte es auch nicht. Aber mit dieser Summe hatte ich genug Geld, um ein, zwei Jahre zu überbrücken - vielleicht sogar drei, wenn ich nach Dublin zurückging.
Und außerdem - beim Gedanken daran fuhr ich mir vorsichtig mit der Zunge über die Zähne - außerdem sprachen die Zahnärzte in Dublin Englisch. W. H. Auden sagte, dass viele
Tausend Menschen ohne Liebe leben konnten, aber keiner ohne Wasser. Er hätte ruhig auch noch die Zähne hinzufügen können. Meine Zukunft sah düster aus, wenn ich mich um die paar Zähne, die mir noch geblieben waren, nicht ordentlich kümmerte.
Draußen war es stockfinster. Der Raum hatte nur ein einziges, schmales Fenster, hoch oben in der Wand, deren ockerfarbener Anstrich abblätterte. Dahinter nachtblauer Himmel, ein blinkender Stern. Auf dem Weg zum Orgelkonzert waren wir an einer sehr einladend wirkenden Trattoria vorbeigekommen. Dort konnten wir hingehen, wenn wir uns in der pensione noch einen warmen Pullover und ein zusätzliches Paar Socken holten. Und dann ab ins Bett.
Wie sollte es mit uns weitergehen? Mit uns, mit den Cafés, dem Sex, den Fenstern aus dem sechzehnten Jahrhundert? Einer der fundamentalen Vorteile von Brüssel war, dass ich mich dort einfach in den Zug setzen konnte, und schon war ich bei Leo, ohne großen Aufwand. Ich hielt es nicht aus, lange von ihm getrennt zu sein, immer noch nicht. Ich achtete gewissenhaft darauf, dass meine Haare eine dezente aschblonde Tönung hatten, und kaufte meine Kleider im Flämisch sprechenden Teil von Belgien, wo selbst elegante Frauen gern Brot und Butter aßen und deshalb eine ähnliche Figur hatten wie ich. Wenn ich neben Leo herging, den Bauch einzog und interessiert lächelte, dann fühlte ich mich wie eine Frau, die mitten im Leben steht. Meistens trafen wir uns in Italien, und dort musterten mich die Männer immer noch sehr aufmerksam.
Aber in Kilbride, in Dublin _ Ich hatte zwar erst im September Geburtstag, aber dann wurde ich fünfundfünfzig. Mit fünfundfünfzig begann zwar noch nicht offiziell die zweite Hälfte des Jahrzehnts, aber weit davon entfernt war ich nicht mehr. In Kilbride gab es keine unverheirateten Frauen in meinem Alter, die beim großen Spiel noch mitspielen wollten. Und falls es doch welche gab, waren sie klug genug, sich nichts anmerken zu lassen.
Das Publikum klatschte jetzt frenetisch Beifall. Wahrscheinlich wollten sich die Leute durch das Klatschen ein bisschen aufwärmen. Leo lächelte mich an, als er aufstand - so lächelte er öfter, und er hatte keine Ahnung, wie anziehend er dann aussah. Musik machte ihn glücklich - jedenfalls die Musik, die komponiert wurde, bevor die Frauen aufhörten, lange Röcke zu tragen.
Ah. Eine Zugabe.
Wir setzten uns alle wieder hin.
Was mich nach Hause lockte, war vor allem ein inneres Bild. Die vernünftigen Argumente, die für eine Rückkehr sprachen, kamen erst an zweiter Stelle.
Falls ich nach Dublin zurückging, um Min zu versorgen, war sie vielleicht bereit, diesem Bild zu entsprechen. Oder auch nicht. Ich mochte ihr Gesicht schon immer - es war klein und blass, mit großen schwarzen Kulleraugen. Min hatte ein Gesicht wie ein Kind. Und ich hatte gesehen, wie dieses Gesicht strahlte, wenn es sich öffnete wie ein Blatt in der Sonne. Doch das war lange her.
Als ich noch klein war - bevor mein Vater starb - fuhren wir jeden Sommer zu dritt in ein kleines Holzhaus nicht weit vom Meer, das »Baileys Hütte« hieß. Diese Hütte lag hinter dem letzten Pier von Milbay Harbour, auf einer Wiese, die aus Gras und Muscheln bestand. Die Mutter meines Vaters, Granny Barry, arbeitete in Baileys Eisenwarengeschäft und arrangierte es deshalb immer für uns, dass wir in diesem Häuschen Ferien machen konnten.
Es gab dort kein fließendes Wasser, also brachten wir immer kanisterweise Leitungswasser mit, um Tee zu kochen; für alles andere verwendeten wir das Regenwasser aus der Tonne vor der Tür. Zum Beispiel wusch mein Vater mit diesem Regenwasser Min die Haare.
»Ja, stimmt, Ma'am«, sagte er, wenn sie verkündete, heute wäre ein guter Tag, um ihr die Haare zu waschen. Er trug eine Schüssel mit warmem Wasser hinaus auf die Wiese und dann noch einen Eimer mit Regenwasser. Min kniete sich hin, in ihrem alten Rock und ihrem rosaroten Unterhemd, in das für die Brüste zwei spitz zulaufende Kegel eingenäht waren. Mein Vater setzte sich auf eine Kiste, sie legte ihm den Kopf in den Schoß, und er massierte ihr mit den Fingern das Shampoo in die Haare. »Pass bloß auf, dass ich das Zeug nicht in die Augen kriege«, warnte sie ihn. Während sie immer noch mit gesenktem Kopf kniete, stand er auf und goss ihr vorsichtig ein bisschen Regenwasser über den Kopf. Sie zuckte zusammen und schrie: »Aua! Das ist ja eiskalt!« Aber Dad goss unbeirrt weiter. Sie verteilte das Wasser mit den Händen, und er folgte ihren Bewegungen. Schließlich stellte er den Eimer beiseite und wickelte ihr ein Handtuch um den Kopf. Mit blinden Augen blickte sie hoch, und er tupfte behutsam ihr Gesicht ab.
Die Haare ließ sie in der Sonne trocknen, nach vorne gekämmt, sodass sie ihr übers Gesicht fielen, während auf beiden Seiten ihre knochigen Schultern herausguckten. Manchmal bürstete sie sich auch im warmen Hauch des Aladdin-Heizlüf- ters, der im Zimmer in der Ecke stand, hinter Draht, damit ich ihn nicht anfasste. Ihre Haare wurden dann immer dichter, sie glänzten und vibrierten, als würde der Strom durch sie hindurchgehen.
Mein Vater schwärmte: »Schau nur die Haare von deiner Tante Min an. Sie hat wirklich wunderschönes Haar.« Er klang richtig wehmütig, als würde er über etwas sprechen, das weit in der Vergangenheit lag. Dabei saß sie doch direkt vor ihm und machte auch keine Anstalten wegzugehen.
Ich werde nie vergessen, wie sie aussah, wenn sie ihm ihr Gesicht zuwandte, wehrlos, hingebungsvoll. Er nahm es einen kurzen Moment zwischen beide Hände, während sie darauf wartete, dass er es abtrocknete, und sie, die sonst immer so misstrauisch und schroff war, ließ das alles widerspruchslos mit sich geschehen, mit geschlossenen Augen. Sie gab sich seiner Fürsorge hin, wie ein Seevogel, der sich sanft auf der Wasseroberfläche niederlässt.
Vielleicht schaute sie jetzt auch mich mit diesem Gesichtsausdruck an. Vielleicht machte sie mir dieses Geschenk.
Ich würde mir den Pauschalbetrag auszahlen lassen.
Am Ende des Sommers ging ich nach Irland zurück, und die ersten zwei, drei Monate saß ich eigentlich nur an dem alten Küchentisch. Viel mehr tat ich nicht. Es war, als hätte ich den Märchenwald betreten, der das Schloss umgab, in dem die Prinzessin schlief. In diesem Wald rührte sich kein Blatt, kein Vogel sang dort. Meine Gedanken bewegten sich langsam - das ist es doch, was du wolltest, sagte ich zu mir selbst, nun hast du es bekommen. Und was machst du jetzt damit? Ich fühlte mich wie abgetrennt von meiner bisherigen Lebenserfahrung. Alles, was ich in den letzten dreißig Jahren gesehen und gelernt hatte, als ich überall auf dem Globus gelebt, geliebt und gearbeitet hatte, schien seit meiner Rückkehr nach Irland absolut irrelevant zu sein.
Hier passierte nichts. Wenn die Katze Bell ein paar Zentimeter vor meiner Nase über den Tisch spazierte, um vom Fenster zur Treppe und dann zu Min in den ersten Stock hinaufzugelangen, konnte man diesen Vorgang schon fast als Ereignis bezeichnen. Auf dem Weg nach draußen kam sie dann wieder bei mir vorbei. Gelegentlich ließ sie sich sogar dazu herab zu miauen, wenn sie mir zum Beispiel zu verstehen geben wollte, dass sie ihr Abendessen wünschte. Ich hatte jede Menge Zeit, darüber nachzudenken, ob Bell mich verabscheute oder ob unser Verhältnis vielleicht doch etwas komplexer war. Sie hätte ja auch eine andere Strecke nehmen und an der Wand entlangschleichen können.
»Ich weiß immer, wo du zu finden bist, Rosie«, sagte Andy Sutton, und weil Andy so war, wie er war, sagte er das jedes Mal, wenn er vorbeikam. Andy gehörte zur selben Generation wie ich und meine Freundinnen Peg und Tess (Tess war sogar seine Cousine), aber er wirkte wesentlich älter, weil er auf uns alle aufpasste. Andy lebte auf dem Land. Er arbeitete für eine Wohltätigkeitsorganisation namens NoNeed, und im Sommer sammelte er überall in Irland Ziegen, Hühner, Kaninchen und Schweine ein und transportierte ganze Lastwagen mit diesen Tieren nach England, zum Flughafen Gatwick. Von dort wurden sie dann in Gegenden auf der Welt gebracht, in denen große Armut herrschte und die Menschen aufgrund der geografischen und klimatischen Bedingungen nur mit kleinen Nutztieren etwas anfangen konnten. Während der übrigen Monate des Jahres fanden in der Zentrale von NoNeed regelmäßig Sitzungen statt, an denen Andy teilnahm. Dann kam er hierher und wohnte bei seiner Mutter Pearl in Kilbride, nur ein paar Straßen von Min entfernt.
Seine Besuche verliefen immer nach dem gleichen Muster. Er kam zur Haustür herein und steckte den Kopf in die Küche.
»Schläft Min?«, flüsterte er.
Und ich flüsterte zurück: »Ja, sie schläft - oder sie tut wenigstens so.«
»Stehst du eigentlich nie von diesem Tisch auf?«, fragte er dann und ging nach hinten in den Abstellraum, um den Thermostat am Boiler zu überprüfen oder um eine Leiter zu holen, weil er eine kaputte Glühbirne auswechseln musste. Oder er brachte ein Bündel Feuerholz von den Bäumen auf seinem kleinen Bauernhof mit.
Meine Tante oben merkte meistens sehr schnell, dass jemand da war, und wenig später hörte man durch die Decke, wie aus ihrem Transistorradio lebhafte Stimmen kamen oder liebliche Melodien - sobald gesungen wurde, drehte sie die Lautstärke auf. Das war für uns das Signal, dass wir in der Küche wieder normal reden konnten.
Ansonsten wurde meine Ruhe nur unterbrochen, wenn nebenan Tanzmusik erklang - dann wusste ich, dass Reeny aus Spanien zurück war und gleich bei uns vorbeischauen würde, braun gebrannt und gut gelaunt, bepackt mit Schinken oder Pfirsichen oder Pralinen - jedenfalls mit irgendwelchen Geschenken, die keinen Alkohol enthielten. Hin und wieder kam auch der Typ vorbei, der den alten Leuten zu Hause die Haare schnitt. Dann überließ ich ihm den Küchentisch. Und alle zwei Wochen begab ich mich taktvoll in die Bibliothek, weil die Psychologin und ihre Assistentin, eine Art Krankenschwester, kamen, um mit Min zu reden. Das gehörte zu einer Serviceleistung, die ältere Menschen mit Depressionen in Anspruch nehmen konnten. Diese Möglichkeit hatte Reeny ausfindig gemacht, die überhaupt sehr geschickt mit dem Gesundheitssystem umgehen konnte. Sie hatte den Fragebogen auch für sich selbst ausgefüllt, aber als die Psychologin dann ein Vorgespräch mit ihr führte, musste Reeny gestehen, dass sie sich nur angemeldet hatte, weil sie alles, was man kostenlos haben konnte, nutzen wollte.
»Ihre Tante ist sehr antriebsarm und zeigt wenig Initiative«, sagte die Psychologin einmal sehr ernst zu mir, als ich sie zur Tür begleitete.
»Sie geht zu oft in den Pub«, murmelte ich.
Aber das interessierte die Dame nicht weiter. Für sie gab es nur ihr Spezialgebiet.
Ich ging zurück in die Küche und griff nach meinem Buch. Ich hörte, wie Min über mir ständig einen anderen Sender einstellte. Sie hatte das kleine Transistorradio neben sich auf dem Kopfkissen, so nah bei ihrem Gesicht, dass es von ihrer wilden grauen Haarmähne halb verdeckt wurde.
Es dauerte nicht lang, dann erkannte ich am Rhythmus ihrer Schritte auf der Treppe, ob sie aufgestanden war, um etwas mit mir zu unternehmen, oder ob sie lieber gleich in den Pub wollte. Ihre Schritte waren auch deswegen so deutlich zu hören, weil ich den alten Teppich von den Stufen entfernt hatte, damit man das Holz abbeizen und neu lackieren konnte.
»Rosie!«, rief Min immer sehr freundlich, sobald sie die vorletzte Stufe erreichte. »Warum sitzt du so still hier herum?«
Das war natürlich nur eine rhetorische Frage, und es spielte keine Rolle, ob ich antwortete oder nicht. Den ganzen Herbst über ließ ich die hintere Tür zum Garten immer offen stehen. Ich mochte den hellen Lichtstreifen auf dem Küchenfußboden, und es gefiel mir, wenn die kurzen gelben Vorhänge in der warmen Brise wehten. Auch Min lächelte oft ganz entzückt, wenn sie das sah. Aber als es dann kälter wurde, wanderte ihr Blick immer als Erstes zum Kaminherd.
»Da hast du aber ein wunderbares Feuer!«, sagte sie fast verträumt und setzte sich in den kleinen blauen Sessel, griff zur Kohlenzange, um den Flammen noch mehr Nahrung zu geben. Und wenn das Feuer schon etwas schwächelte, legte sie sehr umsichtig ein paar Holzscheite nach, immer an den strategisch richtigen Stellen, damit die Scheite, wenn sie zu brennen anfingen, das ganze Feuer belebten. In der Hinsicht war sie absolut genial. »Gott sei Dank gibt's Kohlen!«, sagte sie immer und ergänzte ihr Werk mit leichter Hand durch grobkörnigen Kohlenstaub.
Manchmal geriet sie so in Fahrt, dass sie anfing, von dem Herdfeuer bei ihr zu Hause zu erzählen, in der Küche in Stoneytown, wo sie aufgewachsen war.
Wenn dieser Name fiel, wurde ich immer hellhörig. Stoneytown war eine Steinbruchsiedlung am Meer, an die Min nicht besonders gern erinnert werden wollte und die für mich so exotisch war wie Shangri-La.
»Ach, was haben wir immer gefroren!«, seufzte sie. »Wenn die Boote es nicht geschafft haben, von Milbay rüberzukommen, um die Steine zu transportieren, dann kriegten wir keine Kohlen«, sagte sie, fröstelte theatralisch und rückte ganz nah zum Feuer. »Es konnte passieren, dass wir wochenlang keine hatten.«
Ich hatte mich oft gefragt, warum das Feuer für sie so wichtig war - bis mir eines Tages klar wurde, dass in den entlegenen Teilen Irlands während der hoffnungslos ärmlichen dreißiger Jahre Feuer gleichbedeutend war mit dem Leben selbst. Der Kaminherd in der Küche musste für diese Menschen so etwas wie ein Altar gewesen sein. Sie waren in jeder Hinsicht auf das Feuer angewiesen, sie brauchten es zum Kochen, zum Brotbacken, um sich zu wärmen, um die Wäsche zu trocknen. In der Nähe von Stoneytown gab es zwar einen Wald, erzählte Min, aber Buchenholz taugte nicht als Feuerholz. »Das ist dir doch klar, oder?«
Selbst wenn sie schon den Mantel angezogen hatte, um rauszugehen, setzte sie sich manchmal noch eine Weile hin, weil es ihr so viel Vergnügen machte, das Feuer anzufachen. Dann stellte sie ihre große Handtasche auf die Knie und starrte in die Flammen. Im Abglanz des Feuers wirkte ihr Gesicht wieder ganz jung.
Nicht jeden Tag, aber zwei- oder dreimal in der Woche stellte sie sich vor den kleinen Spiegel in der Waschküche, um Lippenstift aufzutragen und um sich mit der Bürste durch die Haare zu fahren. Die Leute lächelten oft unbewusst, wenn sie meine Tante sahen: Min war nur knapp eins fünfzig groß, und ihre Augen waren so pechschwarz wie die eines Krallenäffchens. Ich wusste, dass sie längst nicht so süß war, wie sie aussah, aber auch ich musste oft über ihre Launen und Einfälle lachen, ob ich wollte oder nicht.
Nachdem sie sich zurechtgemacht hatte, trennte sie sorgfältig die Seite mit dem Kreuzworträtsel aus der Zeitung vom Vortag heraus und machte sich auf den Weg zum Pub, dem Kilbride Inn. Sie bevorzugte das Kreuzworträtsel vom Tag vorher, weil in der aktuellen Zeitung die Lösungen standen, das heißt, sie konnte nachsehen, wenn sie nicht mehr weiterkam. Und sie wollte auf keinen Fall, dass ich sie in den Pub begleitete.
Warum ging sie überhaupt in den Pub?, fragte ich mich immer wieder. Sie saß dort nur mutterseelenallein an einem Tisch. Ich verstand sie nicht. Aber spielte es überhaupt eine Rolle, ob ich sie verstand oder nicht? Ich saß hier mit ihr fest, daran war nichts zu ändern. Min war für mich eine Art Mutterersatz, seit meiner Geburt. Aber es gab schließlich kein Gesetz, das vorschrieb, dass man seine Mutter verstehen musste - geschweige denn seine Tante, die diese Funktion übernommen hatte, nachdem ihre Schwester gestorben war. Und ich dachte, ohne jeden Groll, dass es Min selbst überhaupt nichts ausmachte, wenn sie mich nicht verstand. Auch sonst bemühten sich die meisten Leute gar nicht, ihre Mitmenschen zu verstehen. Solche Überlegungen waren eine krankhafte Laune der gebildeten Schichten in der westlichen Welt.
Und doch - ich weiß noch ganz genau, wie ich diesen Gedanken hin und her drehte, als ich in der stillen Küche saß, mit Bell auf dem Schoß, die zur Abwechslung mal zufrieden schnurrte -, die Leute können es akzeptieren, dass die Partner, die sie auswählen, selbstständige Menschen sind, die sich von ihnen unterscheiden. Sie können mit jemandem schlafen, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was ihrem Liebsten oder ihrer Liebsten durch den Kopf geht. Bei mir war das jedenfalls meistens so. Und wenn ihre Frau oder ihr Mann stirbt, betrachten sie die Leiche und denken: »Ich habe diesen Menschen nie wirklich gekannt.« Aber die Frau, die einen großgezogen hat?