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Der Tourist - Roman

Olen Steinhauer

 

Verlag Heyne, 2010

ISBN 9783641041984 , 560 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Montag, 10. September bis
Dienstag, 11. September 2001

Vier Stunden nach seinem gescheiterten Selbstmordversuch senkte sich die Maschine auf das Aerodrom Ljubljana herab. Ein Signalton erklang, und über seinem Kopf leuchtete das Gurtzeichen auf. Die Schweizer Geschäftsfrau neben ihm schnallte sich an und blickte durch das Fenster hinaus in den klaren slowenischen Himmel. Eine knappe Abfuhr gleich am Anfang hatte gereicht, um sie davon zu überzeugen, dass der zappelige Amerikaner neben ihr kein Interesse an einer Unterhaltung hatte.
Der Amerikaner schloss die Augen und kehrte zu den Ereignissen am Vormittag in Amsterdam zurück: Schüsse, zerschmettertes Glas und zersplittertes Holz, Sirenen.
Wenn Selbstmord Sünde ist, überlegte er, was ist er dann für jemanden, der nicht an Sünde glaubt? Eine Vergewaltigung der Natur? Wahrscheinlich, denn wenn es überhaupt ein unabänderliches Naturgesetz gibt, dann ist es der Drang, weiterzuexistieren - siehe Unkraut, Küchenschaben, Ameisen und Tauben. Alle Geschöpfe folgen einem gemeinsamen Ziel: Sie wollen am Leben bleiben. Das ist die einzige unbestreitbare Theorie für alles.
In den vergangenen Monaten hatte er sich so ausführlich mit Selbstmord auseinandergesetzt und ihn aus so vielen Blickwinkeln betrachtet, dass die Vorstellung jeden Schrecken verloren hatte. Der Ausdruck »Selbstmord begehen«
war für ihn nicht tragischer als »frühstücken« oder »laufen«, und das Verlangen, Schluss zu machen, war oft genauso stark wie seine Sehnsucht nach Schlaf.
Manchmal war es ein passiver Impuls - ohne Gurt wild durch die Gegend kurven oder blind über eine vielbefahrene Straße marschieren -, doch in letzter Zeit fühlte er sich eher verpflichtet, selbst die Verantwortung für seinen Tod zu übernehmen. Seine Mutter hätte von der »großen Stimme« gesprochen. Da ist das Messer, du weißt, was du zu tun hast. Mach das Fenster auf und versuch zu fliegen. Heute um halb fünf Uhr früh, während er in Amsterdam auf einer Frau lag und sie zu Boden drückte, als ihr Schlafzimmerfenster im Feuer automatischer Waffen zerbarst, hatte es ihn dazu gedrängt, aufzuspringen und sich dem Kugelhagel entgegenzustellen wie ein Mann.
Die ganze Woche über hatte er in Holland eine von den USA unterstützte sechzigjährige Politikerin bewacht, auf die nach ihren Äußerungen zur Einwanderungspolitik ein Kopfgeld ausgesetzt worden war. An diesem Morgen hatte der Auftragskiller, der in bestimmten Kreisen als »Tiger« bekannt war, seinen dritten Mordversuch unternommen. Wäre sein Anschlag gelungen, hätte er damit die Abstimmung des niederländischen Parlaments über die konservative Gesetzesvorlage der Politikerin zu Fall gebracht.
Wie die Existenz dieser Politikerin - einer Frau, die die Vorurteile verängstigter Bauern und verbitterter Rassisten bediente und damit Karriere gemacht hatte - seinem Land in die Hände arbeitete, war ihm völlig schleierhaft. Wie formulierte es Grainger immer so schön? »Ein Imperium zu behaupten, ist zehnmal schwieriger, als es zu erobern.«
Rationale Begründungen zählten in seinem Metier nicht. Handeln war reiner Selbstzweck. Doch während die Frau unter ihm kreischte und der Fensterrahmen mit einem prasselnden Geräusch wie von einer Fritteuse zerfetzt wurde, war ihm durch den Kopf geschossen: Was treibe ich hier überhaupt? Er hatte sogar schon die Hand auf den von Holzsplittern übersäten Teppichboden gestützt, um sich aufzurichten und dem Attentäter von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Doch dann hörte er mitten in dem Getöse das fröhliche Zirpen seines Handys.
»Was ist?«, rief er ins Telefon.
»Stattlich und feist«, meldete sich Tom Grainger.
»Erschien Buck Mulligan.«
Der gebildete Grainger hatte die Anfangszeilen von Romanen zu Codes umfunktioniert. Der Joyce-Schlüssel besagte, dass an einem anderen Ort ein neuer Einsatz auf ihn wartete. Aber für ihn gab es längst nichts Neues mehr. Die gnadenlose Routine aus Städten, Hotelzimmern und verdächtigen Gesichtern, die schon seit viel zu vielen Jahren sein Leben bestimmte, war langweilig bis zum Überdruss. Würde das denn nie ein Ende nehmen?
Also schaltete er das Handy ab und forderte die kreischende Frau auf, liegen zu bleiben. Dann rappelte er sich hoch ... aber er starb nicht. Die Schüsse waren verhallt und von den jaulenden Sirenen der Amsterdamer Polizei verdrängt worden.
»Slowenien«, teilte ihm Grainger später mit, als er die unversehrte Politikerin in die Tweede Kamer fuhr. »Portoroz an der Küste. Es geht um einen verschwundenen Koffer mit Steuergeldern und einen vermissten Basisleiter namens Frank Dawdle.«
»Ich brauche eine Pause, Tom.«
»Das ist sowieso wie Urlaub. Angela Yates ist deine Kontaktfrau - sie arbeitet in Dawdles Büro. Ein vertrautes Gesicht. Danach kannst du gleich dortbleiben und das Wasser genießen.«
Während Grainger in aller Kürze die Einzelheiten des Auftrags herunterleierte, hatte sich sein Magen zusammengekrampft. Der stechende Schmerz war noch immer nicht abgeklungen.
Wenn das einzige unumstößliche Naturgesetz der Drang zum Weiterexistieren ist, wird dann das Gegenteil zu einer Art Verbrechen?
Nein. Selbstmord als Verbrechen würde voraussetzen, dass die Natur zwischen Gut und Böse unterscheidet. Aber die Natur unterscheidet nur zwischen Gleichgewicht und Ungleichgewicht.
Vielleicht war das der springende Punkt. Er war abgeglitten in die entlegensten Winkel einer Existenz, in der äußerstes Ungleichgewicht herrschte. Er war so unausgeglichen, dass es schon ans Lächerliche grenzte. Wie konnte es da die Natur gut mit ihm meinen? Nein, auch die Natur wollte bestimmt nichts anderes als seinen Tod.
»Sir?« Eine Stewardess mit blondiertem Haar lächelte ihn an. »Ihr Gurt.«
Verwirrt blinzelte er sie an. »Was ist damit?«
»Sie müssen ihn anlegen. Wir landen gleich. Zu Ihrer eigenen Sicherheit.«
Obwohl er am liebsten laut losgelacht hätte, tat er ihr den Gefallen. Dann zog er den kleinen weißen Umschlag voller Pillen aus der Tasche, die er in Düsseldorf gekauft hatte, und schluckte zwei Dexedrin. Leben oder Sterben war das eine, doch im Augenblick wollte er vor allem munter bleiben.
Argwöhnisch verfolgte die Schweizer Geschäftsfrau, wie er seine Tabletten wieder verstaute.
Die hübsche Brünette mit dem runden Gesicht beobachtete ihn durch das zerkratzte kugelsichere Fenster, als er sich näherte. Er malte sich aus, was ihr auffiel - seine großen Hände zum Beispiel. Die Hände eines Pianisten. Von dem Dexedrin zitterten sie leicht, und womöglich fragte sie sich jetzt, ob er gerade unbewusst eine Klaviersonate spielte.
Er reichte ihr einen ramponierten amerikanischen Pass, der mehr Grenzen passiert hatte als die meisten Diplomaten. Ein Pianist auf Tournee, dachte sie vielleicht. Ein wenig blass und verschwitzt nach dem langen Flug.