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Haltet euer Herz bereit - Eine ostdeutsche Familiengeschichte

Maxim Leo

 

Verlag Blessing, 2010

ISBN 9783641027865 , 272 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

"20. Begleiter (S. 173-174)

Im Mai 1978 kann Anne nicht mehr. Sie verlässt die Zeitungsredaktion. An der Humboldt-Universität bewirbt sie sich um eine Stelle als Doktorandin. Die historische Forschung erscheint ihr wie ein geschützter Bereich. Heute sagt sie, es sei eine Flucht aus der Realität gewesen. Ihr Arbeitsthema ist die Geschichte der spanischen Gewerkschaftsbewegung. Sie hat sich das Thema nicht ausgesucht, aber es scheint ihr unverfänglich genug zu sein. Sie will keinen Ärger mehr haben.

Anne arbeitet in der Bibliothek des Instituts für Marxismus-Leninismus. Irgendwann bestellt sie dort ein Buch, von dem die Bibliothekarin sagt, es sei nur mit einer Sondergenehmigung auszuleihen. Anne erfährt, dass es eine ganze Abteilung in der Bibliothek gibt, in der Werke stehen, die in der DDR verboten sind. Die Professorin, die Anne betreut, besorgt die Genehmigung, und an einem Winternachmittag des Jahres 1979 darf Anne zum ersten Mal den »Giftraum« betreten, in dem die gefährlichen Bücher katalogisiert sind.

Zu ihrer Überraschung stammen die verbotenen Werke nicht etwa von bürgerlichen Historikern, sondern ausnahmslos von linken Abweichlern. Die gesamte trotzkistische Literatur ist hier versammelt, dazu die Werke der von der Partei als »Euro-Kommunisten«, als »Versöhnler« und »Revisionisten« verschrienen Theoretiker der Arbeiterbewegung. Es sind die Bücher, vor denen die Partei am meisten Angst hat, die sie am vehementesten bekämpft. Diese geheime Bibliothek ist eine Art Grabkammer der Verräter.

Wer einmal Zugang zum »Giftraum« hat, der darf dort bestellen, was er will. Es wird nicht überprüft, ob die ausgeliehenen Schriften im Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Projekt stehen, an dem der Besteller arbeitet. Anne ordert, was sie kriegen kann. Bücher von Renegaten, von Abtrünnigen, von denen sie bis dahin nur die Namen kannte, liegen plötzlich vor ihr auf dem Tisch. Und weil sie mit ihrer Doktorarbeit sowieso viel zu schnell vorankommt, wie ihre Kollegen finden, nutzt sie die Zeit, um sich mit dem verbotenen Wissen vollzustopfen. Sie liest Trotzki, Bucharin und Solschenizyn.

Ein ganzer Kosmos an Ideen und Gedanken öffnet sich ihr. Sie findet Fragen, die sie sich selbst schon oft gestellt hat, und Antworten, die ihr die Sprache verschlagen, weil sie so anders sind als die, mit denen sie groß geworden ist. Sie begreift, dass die Gewissheiten und Glaubenssätze, mit denen sie es bis dahin zu tun hatte, nur eine mögliche Interpretation des Marxismus-Leninismus sind. Dass es unendlich verschiedene Möglichkeiten gibt, den Sozialismus zu denken. Die verfemten Theoretiker, die ihre Gedanken oft mit dem Leben bezahlen mussten, erscheinen ihr viel ehrlicher und mutiger als die Ideologen des real existierenden Sozialismus.

Bei ihnen ist der Sozialismus nicht die Diktatur einer Partei, sondern die traumhafte Vision einer neuen Gesellschaft, in der Freiheit und Sozialismus kein Widerspruch sind. Mit jedem Buch, das sie liest, wächst ihre Überzeugung, dass die DDR den Sozialismus eigentlich verhindert, dass sie ihn verrät und pervertiert. Für Anne ist das erleichternd und belastend zugleich, weil sie nun zwar weiß, dass sie an die richtige Sache glaubt, aber leider im falschen Land lebt. Anne weiß, dass es auch in ihrer Familie einen Verfemten gibt, einen, den die offizielle Geschichtsschreibung der DDR als »rechten Verräter« brandmarkt."