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Calibans Krieg - Roman

James Corey

 

Verlag Heyne, 2013

ISBN 9783641095970 , 672 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

PROLOG Mei

»Mei?«, sagte Miss Carrie. »Räum doch bitte die Malsachen weg. Deine Mutter ist hier.«

Sie brauchte mehrere Sekunden, um zu erfassen, was die Lehrerin von ihr verlangte. Es lag nicht daran, dass Mei die Worte nicht verstand, denn sie war vier Jahre alt und kein Kleinkind mehr. Allerdings passten die Worte nicht zu der Welt, die sie kannte. Ihre Mutter konnte nicht kommen und sie abholen. Mommy hatte Ganymed verlassen und lebte auf der Ceres-Station, weil sie – wie Daddy es ausdrückte – ein bisschen Mommy-für-sich-allein-Zeit brauchte. Dann raste ihr Herz, und Mei dachte: Sie ist wieder da.

»Mommy?«

Mei saß vor der Kinderstaffelei, und zusätzlich blockierte Miss Carries Knie den Blick auf die Tür zum Vorraum. Ihre Hände waren von den roten, blauen und grünen Fingerfarben klebrig und gründlich verschmiert. Sie beugte sich vor und langte nach Miss Carries Bein, um es wegzuschieben und sich zugleich hochzuziehen.

»Mei!«, rief Miss Carrie.

Mei betrachtete die Farbe, die sie auf Miss Carries Hosen hinterlassen hatte, und erkannte die unterdrückte Wut in dem breiten, dunklen Gesicht der Frau.

»Entschuldigung, Miss Carrie.«

»Schon gut«, antwortete die Lehrerin mit einer gepressten Stimme, die Mei verriet, dass sie nicht bestraft werden würde, obwohl es überhaupt nicht gut war. »Wasch dir bitte die Hände, und dann kommst du wieder her und räumst deine Malsachen auf. Ich nehme inzwischen das Bild herunter, damit du es deiner Mutter geben kannst. Ist das ein Hündchen?«

»Das ist ein Weltraummonster.«

»Das ist aber ein sehr schönes Weltraummonster. Jetzt geh, und wasch dir die Hände, meine Liebe.«

Mei nickte, drehte sich um und rannte zur Toilette. Der Kittel flatterte hinter ihr wie ein Lappen, der sich in einem Luftschacht verfangen hatte.

»Und fass nicht die Wand an!«

»Entschuldigung, Miss Carrie.«

»Schon gut. Aber putz das ab, wenn du dir die Hände gewaschen hast.«

Das kleine Mädchen drehte das Wasser voll auf und spülte die Farbe in Kringeln ins Waschbecken. Dann tat sie so, als trocknete sie sich die Hände ab, ohne darauf zu achten, dass die Tropfen in alle Richtungen flogen. Es fühlte sich an, als hätte sich die Schwerkraft verändert und zöge sie zur Tür und zum Vorraum statt nach unten. Angesteckt durch ihre Aufregung, sahen die anderen Kinder zu, wie Mei die Fingerabdrücke mehr oder weniger ordentlich von der Wand abwischte, die Farbtiegel in die Schachtel schob und die Schachtel ins Regal stellte. Dann zog sie sich den Kittel über den Kopf, statt Miss Carrie um Hilfe zu bitten, und stopfte ihn in den Recycler.

Im Vorraum wartete Miss Carrie mit zwei weiteren Erwachsenen, aber ihre Mommy war nicht dabei. Es war eine Frau, die Mei nicht kannte. Sie hatte das Bild mit dem Weltraummonster in der Hand und lächelte höflich. Der andere war Doktor Strickland.

»Nein, sie geht immer brav zur Toilette«, erklärte Miss Carrie gerade. »Natürlich gibt es hin und wieder kleine Unfälle.«

»Natürlich«, sagte die Frau.

»Mei!« Doktor Strickland beugte sich zu ihr herunter, bis er kaum noch größer war als sie. »Was macht denn mein kleiner Liebling?«

»Wo ist meine …«, setzte sie an, aber bevor sie »Mommy« sagen konnte, hob Doktor Strickland sie hoch und nahm sie auf die Arme. Er war größer als Daddy und roch nach Salz. Er kippte sie rückwärts, kitzelte sie an den Seiten, und sie lachte schallend, bis sie nicht mehr sprechen konnte.

»Danke«, sagte die Frau.

»Es war mir ein Vergnügen.« Miss Carrie gab der Frau die Hand. »Wir haben Mei wirklich gern hier bei uns im Unterricht.«

Doktor Strickland kitzelte Mei, bis die Tür des Montessori-Hauses hinter ihnen zufiel. Dann erst kam Mei zu Atem.

»Wo ist meine Mommy?«

»Sie wartet auf uns«, erklärte Doktor Strickland. »Wir bringen dich jetzt zu ihr.«

Die neueren Gänge Ganymeds waren breit und üppig bewachsen, sodass die Luftaufbereiter nur selten laufen mussten. Die zierlichen Wedel der Arecapalmen sprossen in Dutzenden hydroponischen Pflanztöpfen. An den Wänden rankten Efeututen mit ihren breiten, gelbgrün gestreiften Blättern. Die dunkelgrünen primitiven Blätter der Sansevierien wuchsen ganz unten. Vollspektrum-LED-Leuchten strahlten weißgoldenes Licht ab. Daddy hatte ihr gesagt, so sehe das Sonnenlicht auf der Erde aus. Mei stellte sich den Planeten als riesiges, kompliziertes Gebilde aus Pflanzen und Gängen vor, über denen die Sonne als strahlende Linie an der hellblauen Himmelsdecke befestigt war und wo man über die Mauern klettern und wer weiß wo herauskommen konnte.

Mei lehnte den Kopf an Doktor Stricklands Schulter, spähte über seinen Rücken und nannte die Namen aller Pflanzen, an denen sie vorbeikamen. Sanseviera trifasciata, Epipremnum aureum. Daddy musste immer grinsen, wenn sie die Namen richtig aufsagte. Als sie es für sich allein tat, wurde sie sofort ruhiger.

»Gibt es noch mehr?«, fragte die Frau. Sie war hübsch, aber Mei mochte ihre Stimme nicht.

»Nein«, antwortete Doktor Strickland. »Mei hier ist die Letzte.«

»Chysalidocarpus lutescens«, sagte Mei.

»Gut«, antwortete die Frau, und dann, gleich noch einmal und etwas leiser: »Schon gut.«

Je weiter sie sich der Oberfläche näherten, desto enger wurden die Korridore. Die älteren Gänge wirkten immer schmutzig, obwohl man dort eigentlich überhaupt keinen Schmutz entdecken konnte. Sie waren wohl einfach abgenutzt. Meis Großeltern hatten nach ihrer Ankunft auf Ganymed in den Wohnvierteln und Laboratorien in der Nähe der Oberfläche gelebt und gearbeitet. Damals hatten die Leute noch nicht sehr tief gegraben. Die Luft hier oben roch komisch, und die Luftaufbereiter summten und brummten und mussten ständig laufen.

Die Erwachsenen redeten nicht viel, aber ab und zu erinnerte Doktor Strickland sich an Mei und stellte ihr Fragen: Was war ihre Lieblingsfigur in den Zeichentrickfilmen, die sie in den Feeds der Station sehen konnte? Wer war in der Schule ihre beste Freundin? Was hatte sie zu Mittag gegessen? Mei rechnete damit, dass er auch die nächsten Fragen stellen würde, die eigentlich immer kamen. Die Antworten hatte sie schon parat.

Spürst du ein Kratzen im Hals? Nein.

Bist du verschwitzt aufgewacht? Nein.

War in dieser Woche Blut in deinem Aa? Nein.

Hast du zweimal am Tag deine Medizin genommen? Ja.

Dieses Mal verzichtete Doktor Strickland jedoch darauf. Die Flure, durch die sie gingen, wurden immer älter und schmaler, bis die Frau hinter ihnen laufen musste, damit die Männer, die ihnen entgegenkamen, genug Platz hatten. Die Frau hatte Meis Bild mitgenommen. Sie hatte es zu einer Röhre zusammengerollt, damit das Papier keine Falten bekam.

Vor einer Tür, die kein Schild trug, blieb Doktor Strickland stehen und schob Mei auf die andere Hüfte hinüber, um das Handterminal aus der Hosentasche zu ziehen. Er tippte etwas in ein Programm ein, das Mei noch nie gesehen hatte, und dann öffnete sich die Tür. Die Dichtungen knackten laut, wie man es manchmal in alten Filmen sah. Der Flur, den sie betraten, war voller Abfall und alter Metallkisten.

»Das hier ist nicht das Krankenhaus«, stellte Mei fest.

»Dies hier ist ein ganz besonderes Krankenhaus«, erklärte Doktor Strickland. »Ich glaube nicht, dass du schon einmal hier warst, oder?«

Für Mei sah es überhaupt nicht nach einem Krankenhaus aus, sondern eher wie eine der verlassenen Röhren, über die Daddy manchmal sprach. Überflüssige Räume aus der Zeit, als Ganymed gebaut worden war, die höchstens noch als Lagerräume benutzt wurden. Dieser hier besaß allerdings am anderen Ende eine Luftschleuse, und als sie hindurchtraten, sah es tatsächlich beinahe nach einem Krankenhaus aus. Jedenfalls war es dort sauberer, und es roch nach Ozon wie in den Dekontaminationszellen.

»Mei! Hallo, Mei!«

Es war einer der großen Jungs. Sandro. Er war schon fast fünf. Mei winkte ihm zu, als Doktor Strickland mit ihr vorbeiging. Mei fühlte sich besser, weil die großen Jungs anscheinend auch hier waren. Wenn sie hier waren, dann war vermutlich alles in Ordnung, auch wenn die Frau, die Doktor Strickland begleitete, nicht ihre Mommy war. Da fiel ihr ein, dass …

»Wo ist meine Mommy?«

»Wir werden deine Mommy gleich treffen«, versprach Doktor Strickland ihr. »Aber vorher müssen wir noch ein paar Kleinigkeiten erledigen.«

»Nein«, sagte Mei. »Ich will nicht.«

Er trug sie in einen Raum, der aussah wie ein Untersuchungszimmer, nur dass an den Wänden keine Comiclöwen hingen, und die Tische waren auch nicht wie grinsende Nilpferde geformt. Doktor Strickland setzte sie auf einen stählernen Behandlungstisch und strich ihr über den Kopf. Mei verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn...