dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Dissoziative Störungen

Peter Fiedler

 

Verlag Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2013

ISBN 9783840924828 , 129 Seiten

2. Auflage

Format PDF, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

16,99 EUR


 

Trance und Besessenheit: kulturabhängige dissoziative Störungen

• Dissoziative Trance. In der dissoziativen Trance zeigt die betroffene Person eine zeitlich umschriebene erhebliche Veränderung des Bewusstseinszustandes oder einen Verlust des gewohnten Gefühls der eigenen Identität . Dieser Zustand ist üblicherweise verbunden mit einer Einengung der Wahrnehmung der unmittelbaren Umgebung oder mit einer ungewöhnlich eingeengten und selektiven Fokussierung auf Umgebungsreize . Es kommen stereotype Verhaltensweisen oder Bewegungen vor, die außerhalb der eigenen Kontrolle erlebt werden .

• Dissoziative Besessenheits-Trance. In der dissoziativen BesessenheitsTrance kommt es zu einzelnen oder episodischen Veränderungen des Bewusstseinszustandes, die dadurch charakterisierbar sind, dass eine neue Identität an die Stelle der gewohnten Identität tritt . Dieser Fuguezustand wird regelhaft dem Einfluss eines Geistes, einer Kraft, einer Gottheit oder einer anderen Person zugeschrieben . Typisch sind folgende Symptome und Auffälligkeiten: Einerseits lassen sich stereotypisierte und kulturell festgelegte Verhaltensweisen oder Bewegungen beobachten, die als unter der Kontrolle des Besessenheits-Agens stehend erlebt werden . Andererseits folgt der Besessenheits-Trance eine vollständige oder partielle Amnesie für das Ereignis . Beide Dissoziationsformen dürfen ausdrücklich erst dann als psychische Störungen diagnostiziert werden,

• wenn sie nicht als normaler Bestandteil allgemeiner kultureller oder re ligiöser Riten akzeptiert sind und

• wenn sie in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verursachen . Immer dann, wenn Trance und Besessenheit als „Störung“ oder „Leidenszustand“ beschrieben werden, treten dissoziative Verfassungen zumeist spontan und ungewollt auf . Es kommt zu einem unerwarteten Verlust der Bewusstheit für die eigene Person und für die Umgebung . Es entsteht das Gefühl, als werde man von einer „fremden“ Person oder Macht in Besitz genommen . Betroffene sprechen plötzlich „mit fremder Zunge“ und verhalten sich unkontrollierbar und auf eine für sie selbst höchst befremdliche Weise . Das eigene Selbst erscheint als dissoziiert, Aktionen werden unter „fremder“ Kontrolle ausgeführt.

Als „normale“ Besessenheitstrance ohne Behandlungswert wären Fälle anzusehen, die eindeutig im Kontext religiöser Riten und Handlungen ohne subjektives Leiden auftreten . Die jeweiligen Riten und religiösen Handlungen sind zugleich feste Bestandteile kultureller Gepflogenheiten . Und mit deren Abschluss ist üblicherweise eine Rückkehr der Betroffenen zum normalen alltäglichen Funktionieren verbunden .

1.2.6 Dissoziative Identitätsstörung

In der ICD-10 findet sich noch die Bezeichnung „multiple Persönlichkeitsstörung“ (F44 .81), die jedoch nach Einführung der neuen und genaueren DSM-IV-Bezeichnung „dissoziative Identitätsstörung“ nicht mehr benutzt werden sollte (APA, 1994) .

Bis in die 1980er Jahre hinein war es für die Diagnosevergabe einer „multiplen Persönlichkeitsstörung“ erforderlich, dass die Betroffenen über zwei oder mehr alternierende „Persönlichkeitszustände“ verfügen mussten, die zugleich gegeneinander amnestisch waren („Dr.-Jekyll-Mr.-Hyde-Duality“) . Beobachtungen dieser Art sind ausgesprochen selten, und mit Einführung des DSM-III (APA, 1980) wurde dieses strenge Kriterium der separierten „Persönlichkeiten“ aufgegeben (nicht jedoch das weiterhin wichtige Kriterium teilweiser Amnesie gegenüber vergangener Erfahrung) .

Dissoziative Identitätsstörung: Störungsbeschreibung

Gemäß DSM-IV-TR erhalten die verschiedenen gezeigten Persönlichkeitszustände abwechselnd die Kontrolle über die Person . Als solche bilden sie eine Entität mit einem überdauernden, erinnerbaren und begründbaren Gefühl eines Selbst und mit für sie charakteristischen und konsistenten Verhaltensund Erlebensmustern (APA, 2000) .

Eine solche Beschreibung entspricht jedoch eher einer heute bereits als „klassisch“ zu bezeichnenden Störungsauffassung . Im Sinne einer „modernen“ Störungskonzeption auf Grundlage der Forschungen der vergangenen Jahre wird die dissoziative Identitätsstörung über das Fehlen oder über die Brüchigkeit eines ganzheitlichen Selbst-Erlebens beschrieben (vgl . Cardeña, Lewis-Fernández, Bear, Pakianathan & Spiegel, 1996): Übergreifend kennzeichnend für die unterschiedlichen Facetten der dissoziativen Identitätsstörung ist die Unfähigkeit der Betroffenen, verschiedene Aspekte der Identität, des Gedächtnisses und des Bewusstseins zu integrieren . Es gelingt ihnen nicht, innerpsychisch eine ganzheitlich erlebte oder ganzheitlich wirkende Selbstsicht bzw . Erfahrungswelt aufzubauen . Mit der neuen Bezeichnung „dissoziative Identitätsstörung“ wird das klinische Bild dieser dissoziativen Störung eindeutiger charakterisiert: Die Betroffenen präsentieren keine „multiplen Persönlichkeitsstörungen“ . Die Persönlichkeitsmetapher sollte also mit Bedacht gewählt werden, schon um das Störungsbild nicht in die Nähe der „Persönlichkeitsstörungen“ zu rücken . Es ist angemessener, zukünftig möglichst nur noch folgende Begrifflichkeiten zu verwenden:
• wechselnde Identitäten,
• dissoziierte Identitäten,
• wechselnde Persönlichkeitseigenarten, • wechselnde Persönlichkeitszustände,
• wechselnde Persönlichkeitsmuster,
• wechselnde Rollen oder Rollenmuster,
• Rollenfluktuation .

Die Übergänge zwischen Identitäten werden häufig durch psychosoziale Belastungen oder besonders intensive emotionale Erfahrungen ausgelöst (Tanz, Musik, Betroffenheit) . Es dauert gewöhnlich nur Sekunden, um von einer Identität in eine andere zu wechseln .

Diese ist in der Regel passiv, abhängig, hat Schuldgefühle und ist depressiv gestimmt . Die charakteristischen Eigenarten der übrigen Identitätszustände stehen häufig im deutlichen Gegensatz zur Primäridentität (sind z .B . fröhlich, kindlich, feindselig, kontrollierend-dominant oder selbstzerstörerisch) .


Die Betroffenen scheinen weiter große Schwierigkeiten bei der Modulation von Gefühlen zu haben, was zur Fehldiagnose „Borderline“ führen kann . Sie beziehen ihre subjektive Sicherheit offensichtlich daraus, dass sie in zeitweilig festgefügte Personzustände wechseln, die jeweils durch eine ganz bestimmte, aktuell dominierende Gefühlslage oder Persontypik festgelegt sind: Sie sind zeitweilig entweder ärgerlich oder fühlen keinen Ärger, sie sind gelegentlich sexuell promiskuös, und erscheinen kurze Zeit später als fast zölibatär . Sind sie hoch erregt, haben sie gleichzeitig Schwierigkeiten, sich wieder zu beruhigen . Insbesondere dann, wenn die Patienten bereits psychotherapeutisch vorbehandelt wurden (etwa mittels Hypnose als einer Interventionsform), weisen die Betroffenen gelegentlich mehr als höchstens fünf (bei Männern) oder zehn (bei Frauen) unterschiedliche Identitäten mit unterschiedlichen Namen auf . Weil die Gefahr einer iatrogenen Störungsausweitung besteht, ist diagnostisch und therapeutisch behutsam darauf zu achten, dass dem vorbestehenden Störungsbild keine weiteren Identitäten hinzugefügt werden .

1.3 Epidemiologische Daten

Schätzungen zur Prävalenz dissoziativer Störungen in der Allgemeinbevölkerung schwanken zwischen zwei und sechs Prozent . Bei direkten Fragebogen-Erhebungen in einer US-Bevölkerungsstichprobe mit der …