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Sonnensturm - Roman. Die vielfach ausgezeichnete schwedische Krimi-Serie

Åsa Larsson

 

Verlag C. Bertelsmann, 2013

ISBN 9783641126476 , 352 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Montag, 17. Februar

REBECKA MARTINSSON wurde von ihrem Keuchen geweckt, als die Unruhe ihren Körper erfasste. Sie riss in der Dunkelheit die Augen auf. Genau an der Grenze zwischen Traum und Wachen hatte sie das deutliche Gefühl, dass da jemand in ihrer Wohnung war. Sie blieb ganz still liegen und lauschte, aber sie hörte nur ihr eigenes Herz, das wie ein verängstigter Hase durch ihre Brust zu jagen schien. Ihre Finger tasteten nach dem Wecker auf dem Nachttisch und fanden den kleinen Leuchtknopf. Viertel vor vier. Vier Stunden zuvor war sie schlafen gegangen, und nun war sie bereits zum zweiten Mal aufgewacht.

Das liegt an der Arbeit, dachte sie. Ich arbeite zu viel. Und deshalb kommen meine Gedanken nachts ebenso wenig zur Ruhe wie ein Hamster in einem ungeölten Laufrad.

Ihr Kopf und ihr Nacken taten weh. Offenbar hatte sie im Schlaf mit den Zähnen geknirscht. Da konnte sie auch gleich aufstehen. Sie wickelte sich in ihre Decke und ging in die Küche. Ihre Füße fanden den Weg auch im Dunkeln, deshalb brauchte sie kein Licht. Sie schaltete Kaffeemaschine und Radio ein. Immer wieder erklang das Pausensignal, wie ein tonloser Gebetsruf, während das Wasser in den Filter tropfte und sie duschte.

Ihre langen Haare mussten von selbst trocknen. Sie trank Kaffee und zog sich gleichzeitig an. Während des Wochenendes hatte sie ihre Garderobe für die kommende Woche gebügelt und in den Schrank gehängt. Jetzt war Montag. Auf dem Montagskleiderbügel hingen eine kreideweiße Bluse und ein marineblaues Kostüm von Marella. Sie schnupperte an ihren Strümpfen vom Vortag, die mussten noch einen Tag halten. Sie beulten am Spann ein wenig aus, aber wenn sie sie straff zog und unter ihren Fuß stopfte, fiel das nicht weiter auf. Sie durfte eben tagsüber ihre Schuhe nicht abstreifen. Aber das war nicht wichtig. Um Unterwäsche und Strümpfe könnte sie sich noch Gedanken genug machen, wenn die Möglichkeit bestand, dass jemand ihr beim Ausziehen zusehen würde. Ihre Unterwäsche war verwaschen und grau.

Eine Stunde später saß sie in ihrem Büro am Computer. Der Text plätscherte wie ein Gebirgsbach durch ihren Kopf, durch ihre Arme und bis hinaus in ihre über die Tastatur jagenden Finger. Bei der Arbeit fand sie Ruhe. Ihr Unbehagen von vorhin war wie weggeblasen.

Das ist schon seltsam, dachte sie. Die ganze Zeit jammere ich mit den Kollegen darüber, wie schrecklich die Arbeit doch ist. Aber wenn ich arbeite, komme ich zur Ruhe. Finde fast eine Art Freude. Wenn ich dagegen nicht arbeite, dann überkommt mich die Unruhe.

Das Licht der Straßenlaternen bahnte sich mühsam einen Weg durch die großen, vielfach unterteilten Fenster. Noch immer waren im Klangbild von draußen einzelne Autos zu unterscheiden, aber schon bald würde die Straße sich in ein dumpfes Verkehrsdröhnen verwandeln. Rebecka ließ sich in ihrem Schreibtischsessel zurücksinken und begann mit dem Ausdrucken. Im dunklen Gang draußen erwachte der Drucker zum Leben und machte sich an den ersten Auftrag des Tages. Dann fiel die Tür bei der Rezeption ins Schloss. Rebecka seufzte und schaute auf die Uhr. Zehn vor sechs. Ihre Einsamkeit hatte ein Ende.

Sie konnte nicht hören, wer da gekommen war. Die weichen Teppiche auf dem Gang dämpften alle Schritte, aber nach einer Weile wurde die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet.

»Darf man stören?«

Es war Maria Taube. Sie stieß die Tür mit der Hüfte auf, denn sie hielt in jeder Hand eine Kaffeetasse. Rebeckas Computerausdruck klemmte unter ihrem rechten Arm.

Beide Frauen arbeiteten als frischgebackene Anwältinnen mit Spezialgebiet Steuerrecht in der Kanzlei Meijer & Ditzinger. Die Kanzlei lag im Obergeschoss eines schönen Jugendstilgebäudes in der Birger Jarlsgatan. Der Flur war von semi-antiken Perserteppichen bedeckt, und an einigen Stellen standen gediegene Sofas und bequeme Sessel aus altem Leder. Alles strahlte Erfahrung, Einfluss, Geld und Kompetenz aus. Es war ein Büro, das den Mandanten das Gefühl gab, sich hier in sicherer Obhut zu befinden und sorgsam betreut zu werden.

»Wenn man stirbt, wird man so müde sein, dass man sich wünscht, es gäbe kein Leben nach dem Tod«, sagte Maria und stellte eine Tasse auf Rebeckas Schreibtisch. »Aber das gilt natürlich nicht für dich, Maggie Thatcher. Wann bist du heute gekommen? Oder bist du gar nicht erst zu Hause gewesen?«

Sie hatten beide den Sonntagabend im Büro verbracht. Maria war als Erste nach Hause gegangen.

»Ich bin erst seit ein paar Minuten hier«, log Rebecka und nahm Maria den Ausdruck ab.

Maria ließ sich in den Besuchersessel sinken, streifte ihre viel zu teuren Lederschuhe ab und zog die Beine hoch.

»Was für ein Wetter«, sagte sie.

Rebecka schaute überrascht aus dem Fenster. Regen hämmerte gegen die Fensterscheibe. Ihr war das noch gar nicht aufgefallen. Doch dann fiel ihr ein, dass es schon geregnet hatte, als sie ins Büro gekommen war. Aber sie wusste nicht mehr, ob sie zu Fuß gekommen war oder die U-Bahn genommen hatte. Ihr Blick haftete wie hypnotisiert an dem Wasser, das gegen das Fenster prasselte und daran hinunterlief.

Stockholmer Winter, dachte sie. Kein Wunder, dass man sein Bewusstsein ausschaltet, wenn man das Haus verlässt. Zu Hause ist das anders. Mit mittwinterblauem Dämmerlicht und knisterndem Schnee. Oder im späten Winter. Wenn man auf Skiern von Omas Haus in Kurravaara am Fluss entlang zur Hütte in Jiekajärvi gelaufen ist und dann eine Pause macht und sich auf den ersten schneefreien Fleck unter einer Tanne setzt. Die Baumrinde, die in der Sonne kupferrot aufglüht. Der Schnee seufzt vor Erschöpfung, wenn er in der Wärme in sich zusammensinkt. Kaffee, Apfelsinen und belegte Brote im Rucksack.

Marias Stimme holte sie aus diesen Erinnerungen. Rebeckas Gedanken wehrten sich und wollten weiter ihren Gang gehen, aber sie riss sich zusammen und sah die erhobenen Augenbrauen ihrer Kollegin.

»Hallo! Ich habe gefragt, ob du die Nachrichten hören willst.«

»Sicher.«

Rebecka ließ sich im Sessel zurücksinken und streckte die Hand nach dem Radio auf der Fensterbank aus.

Himmel, was ist sie mager, dachte Maria und musterte den Brustkorb ihrer Kollegin, der sich unter deren Jacke abzeichnete. Auf den Rippen kann man doch glatt Xylophon spielen.

Rebecka drehte das Radio lauter, und die zwei Frauen saßen mit ihren Kaffeetassen da und senkten ihre Häupter wie zum Gebet.

Maria blinzelte. Dabei taten ihre müden Augen weh. Heute würde sie beim Bezirksgericht im Fall Stenman Berufung einlegen müssen. Måns würde sie umbringen, wenn sie ihn um noch mehr Zeit bäte. Sie spürte, wie ihr Zwerchfell brannte. Bis zum Mittagessen durfte sie keinen Kaffee mehr trinken. Hier saß sie wie in einem Dornröschenschloss, Tage und Nächte, Abende und Wochenenden in diesem tristen Büro mit all den verdammten Akten, die sich zum Teufel scheren konnten, all den versoffenen Partnern, die ihr in den Ausschnitt glotzten, und draußen strömte das Leben einfach vorbei. Sie wusste nicht, ob sie weinen oder revoltieren sollte, aber am Ende konnte sie sich nur nach Hause vor den Fernseher schleppen und im angstdämpfenden Geflimmer einnicken.

»Es ist sechs Uhr morgens, hier kommen die Nachrichten. Ein bekannter religiöser Aktivist von Mitte zwanzig wurde am frühen Morgen in der Kirche der Kraftquelle in Kiruna ermordet aufgefunden. Die Polizei von Kiruna wollte sich bisher zu diesem Mordfall nicht äußern, hat inzwischen aber mitgeteilt, dass noch keine Verdächtigen festgenommen worden sind und dass die Tatwaffe bisher fehlt. Immer mehr Gemeinden entziehen sich ihren Fürsorgeverpflichtungen, wie eine neue Untersuchung zeigt…«

Rebecka ließ ihren Stuhl so rasch herumwirbeln, dass sie mit der Hand gegen die Fensterbank knallte. Sie schlug auf die Austaste des Radios und goss sich gleichzeitig Kaffee über das Knie.

»Viktor«, rief sie. »Jemand anders kann das doch gar nicht sein.«

Maria musterte sie überrascht.

»Viktor Strandgård? Der Paradiesjünger? Hast du den gekannt?«

Rebecka riss sich von Marias Blick los. Starrte den Kaffeefleck auf ihrem Rock an. Ihr Gesicht war ausdruckslos und verschlossen. Ihre Lippen dünn und zusammengepresst.

»Natürlich hab ich ihn gekannt. Aber ich war seit Jahren nicht mehr zu Hause. Ich kenne da eigentlich niemanden mehr.«

Maria erhob sich aus ihrem Sessel, kam auf Rebecka zu und nahm die Kaffeetasse aus den erstarrten Händen ihrer Kollegin.

»Wenn du sagen willst, dass du ihn nicht gekannt hast, dann macht das auch nichts, Herzchen, aber du kannst hier jeden Moment ohnmächtig werden. Du bist leichenblass. Beug dich vor und steck den Kopf zwischen die Knie.«

Rebecka gehorchte wie ein Schulkind. Maria lief zur Toilette und holte Papier. Sie wollte versuchen, den Kaffeefleck aus Rebeckas Rock zu bekommen. Als sie zurückkam, saß Rebecka zurückgelehnt im Sessel.

»Geht’s dir besser?«, fragte Maria.

»Ja«, antwortete Rebecka zerstreut und sah hilflos zu, wie Maria sich mit feuchtem Papier über ihren Rock hermachte. »Ich habe ihn gekannt«, sagte sie dann.

»Mmm, dazu war ja auch kein Lügendetektor nötig«, sagte Maria, ohne den Blick vom Fleck zu heben. »Geht es dir nahe?«

»Nahe? Ich weiß nicht. Nein, es macht mir eher Angst.«

»Angst?« Maria unterbrach ihre heftigen Wischbewegungen. »Angst wovor denn?«

»Ich weiß nicht. Dass vielleicht jemand…«

Rebecka konnte den Satz nicht beenden, denn jetzt brach das Telefon in schrilles...