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Leitlinien der Stimmtherapie

Marianne Spiecker-Henke

 

Verlag Georg Thieme Verlag KG, 2014

ISBN 9783131774323 , 328 Seiten

2. Auflage

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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25,99 EUR

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1 Der Klang der Welt – Natur und Magie


Musik ist die Stimme des Universums, ist die Harmonisierung aller Schwingungen, aus der die Materie besteht, und sie heilt uns und unser Universum. (Yehudi Menuhin)

In vielen mythischen Erzählungen rund um den Globus sind die Geräusche der Natur – Tierlaute, Wind, Donner, Wasser – die Stimmen der Götter, der Geister und der verstorbenen Ahnen. Eine magische Korrespondenz prägt jene Riten, mit denen Verbindung zur Geisterwelt aufgenommen werden soll: Lang anhaltendes Tanzen, rhythmische Körperbewegungen, vor allem aber monotone Laute versetzen Sänger und Tänzer in Trance und Ekstase. Der Ritus öffnet eine magische Pforte, die Götter betreten die Welt, der Mensch findet für seine Anliegen offene Ohren. Innerhalb solcher Rituale ist die Stimme das wichtigste Medium, der Schlüssel zur Geisterwelt.

Nachahmung von Naturgeräuschen Um den Göttern nahe zu sein, werden Geräusche und Töne der Natur nachgeahmt: der Klang von Regen und Sturm, die Laute der Tiere und der Gesang der Vögel. Der Laut bezeichnet kein symbolisches Abstraktum. Gegenstand und Deutung sind noch nicht auseinandergefallen: Wer wie ein Löwe brüllt, ist ein Löwe. Da die lautlichen Phänomene imitatorischen Charakter haben und auf die Bezugsebene einer gemeinsamen Naturerfahrung verweisen, versteht sie jedermann.

Die Stimme als Mittler zum Jenseits Im Laufe der menschlichen Entwicklung übernimmt eine spezialisierte Kaste aus Fachkräften, eine Priesterschaft, die Aufgabe, den Kontakt zum Jenseits zu halten. Schamanistische Beschwörer artikulieren rituelle Formeln und Gesänge, die das Tor zu anderen Ebenen öffnen. Sie sind Boten zwischen den Welten – so wie in gewisser Weise später der Arzt oder der Therapeut zwischen Bewusstem und Unbewusstem vermittelt.

Rituale als soziale Handlung Die magischen Rituale und Gesänge finden im Auftrag von Gruppen statt, sie sind daher stets auch eine soziale Handlung. Die Großfamilie, der Stamm, die Sippe oder Horde findet sich zu gemeinschaftlichem Erleben zusammen: In der Rhythmik der Körperbewegungen verschmilzt der Stamm zur Einheit. Die musikalische Verbundenheit, der gemeinsam erzeugte Schall, erzeugt auch ein kooperatives Wollen, formt aus den Individuen einen Kollektivkörper.

Singend und tanzend nimmt der Mensch den Kampf gegen Naturgewalten, gegen feindliche Stämme und Mächte auf. Den Glauben an die geheimnisvolle Wirkungsmacht des Singens und Trommelns nennen wir Magie. Die magische Wirkung der Gesänge sichert die Existenz. Als akustischer Schutzzauber sorgt sie für Wachstum, reiche Ernten und erfolgreiche Jagd. Das Nachahmen tierischer Laute lockt Totemtiere an, sodass sie erbeutet werden können.

Singen und Trommeln haben aber auch für den Einzelnen eine zentrale Funktion. Das Spüren der Luftschwingungen und die Resonanzen der Klänge, die den Körper des Singenden durchströmen, vermehren seine Bereitschaft, übersinnliche Wirkungen und Kräfte zu erleben.

Die heilende Kraft der Gesänge Magischen Gesängen schreiben die Menschen zudem medizinische Heilkräfte zu. Rituelle Gesangsformeln können Krankheiten austreiben, sie erhalten die Gesundheit und steigern das Wohlbefinden. Kommen diese Beschwörungen in sozialen Zeremonien zum Einsatz, können sie selbst Dämonen verjagen, die bösen, krankheitserregenden Geister. Der Schamane verwandelt sich hierbei oft in ein Rollenwunder, das in vielen Zungen zu sprechen vermag. Jede Veränderung der Stimmmodulation ist Träger einer anderen Kraft, jeder Krankheitsgeist hat seine eigenen Melodien.

Das gemeinsame Singen und Tanzen am Lager eines Kranken kann die Genesung fördern. Ausgeglichene, tragende Rhythmen, die monotone Art des Singsangs können beruhigend auf das vegetative Nervensystem einwirken, Puls- und Herzfrequenz stabilisieren sich. Dies wiederum mildert Angst- und Schmerzzustände. Der Kranke fühlt sich nicht isoliert, er bleibt ein Teil der Gemeinschaft und spürt Ruhe und Geborgenheit. Das psychophysische Wohlgefühl mobilisiert die eigenen Heilkräfte.

Relikte urzeitlicher Rituale Riten und Bräuche sind auch bei uns lebendig: Wenn bspw. zu Fastnacht die Menschen mit Masken wie entfesselt durch die Straßen tanzen, wenn der heilige Christophorus hinter Windschutzscheiben baumelt, wenn Raketen und Böller zu Silvester die Dämonen der Kälte und Finsternis austreiben sollen, wenn die bäuerliche Blaskapelle um die Feldflur zieht, um Gedeihen und Wachstum auf den Äckern zu erbitten. Wir klopfen auf Holz, um unseren Wünschen die Erfüllung zu sichern, wir singen, wenn wir in den dunklen Keller gehen, wir drücken Freunden zur Prüfung die Daumen, wir suchen geheime Kräfte in der Naturmagie, indem wir Edelsteine als Schutzamulett oder Talisman tragen.

Natürlich ist es leicht, sich mit einem aufgeklärt-rationalen Weltwissen über diese „primitiven“ Restbestände magischen Denkens hinwegzusetzen. Trotzdem trägt jeder tief in sich den Restglauben an magische Zusammenhänge, die in schwierigen Situationen unterstützend wirken sollen.

Auf der Suche nach dem Ursprung Heute ruht unser Weltbild auf naturwissenschaftlichen Fundamenten: Die Technik, das Experiment, statistische Daten mit messbaren Ergebnissen haben die natürliche Intuition und Kreativität überdeckt. Die kognitive, faktengestützte Erkenntnis triumphiert über primitive Ansichten, die der Tradition und einem magischen Erfahrungswissen entstammen. Ein Bewusstsein für den archaischen und magischen Urgrund frühmenschlichen Lebensgefühls ist den meisten längst fremd geworden.

Das Gefühl des Ungenügens aber wächst. Immer mehr Menschen in westlichen Kulturen suchen den Weg zurück. Sie graben nach ihren Wurzeln und gewinnen dabei eine Ahnung vom Urklang am Anfang. Sie lassen sich ein auf Meditationen, sie erleben die Wirksamkeit rituell-monotoner Klänge, sie vertrauen auf endlose formelhafte Wiederholungen von Lautsilben (Mantras) oder auf das weltentrückte „Om“ tibetischer Tempelmönche. Ihr Körper reagiert mit einer größeren psychophysischen Balance: Das Gleichgewicht kehrt zurück.

Wirkung durch Schall Insbesondere Ostasiaten, die nicht gerade in einer technologisch rückständigen Weltregion leben, vertrauen noch heute auf die Wirkung der Schalltherapie: So wurden und werden mittels Tönen und Tonarten bestimmte Krankheiten geheilt. Die chinesische Medizin nutzt das Singen bestimmter Silben als Heilmittel, um auf bestimmte Organe einzuwirken. Auch die europäische Antike kannte den Zusammenhang von Stimme und Körper. Stimmübungen galten dort als eine Art Medikament, um Krankheiten zu heilen, die Gesundheit zu wahren, Selbstheilungskräfte zu aktivieren und das Gleichgewicht zwischen Körper und Seele zu erhalten.

Heute gibt es Versuche, das Wissen früherer Kulturen bei psychosomatischen Erkrankungen oder in der Musiktherapie zu reaktivieren, um ähnliche Effekte zu erzielen. Es zeigt sich aber, dass eine einfache Übertragung der stimmlichen Heilkraft in unsere Zeit nur dann gelingt, wenn sich die Menschen ihrer Verbundenheit mit dem Ursprünglichen bewusst werden. Die Wiedererschließung solch transkultureller und anthropologischer Felder bietet dann eine Chance, die Stimme wie auch die Musik als heilende Kraft zu verstehen. Die Stimme bleibt der elementare Ausdruck des Menschen. Sie birgt eine große emotionale Kraft, die es zu nutzen gilt.

Archaische Melodieformen Fast alle Kulturen kennen eine enge Verknüpfung von Singen und Tanz. Restbestände haben sich bei uns in Rockkonzerten oder in den Chorgesängen der Fußballstadien erhalten. Es sind gemeinschaftsstiftende, trancefördernde Rituale, die über Atmung und Stimme für einige Stunden ein Kollektiv erschaffen und beschwören. Auch für die Jüngsten sind Kinderlieder ohne In-die-Hände-Klatschen, Auf-den-Boden-Stampfen, ohne das Nachahmen von Tieren und ihren Lauten, von Geräuschen der Natur wie des Windes oder des Regens kaum denkbar. Man denke bspw. an die rhythmischen Lautmalereien in dem Lied „Hoppe, hoppe, Reiter …“

Ein unsichtbares Band verbindet uns über diese lautmalerischen Lieder mit frühen Gesellschaften. Auch das Ansingen von Tieren wie Schnecken oder Maikäfern beruht auf der alten Anschauung, dass Mensch und Tier wechselseitig ihre Sprache verstehen können, sofern man sich durch die richtigen, magisch wirksamen Melodien auszudrücken vermag: „Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg …“

Fast all diese Lieder erklingen in einem 5-stufigen halbtonlosen Tonsystem (Pentatonik), das eine verblüffend enge Verwandtschaft zu den Kultgesängen naturnaher Völker zeigt: „Fallende Terz und die Verbindung von Ganzton und kleiner Terz sind die herausragenden archaischen...