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Dementia Care Mapping (DCM) - Evaluation und Anwendung im deutschsprachigen Raum

Riesner

 

Verlag Hogrefe AG, 2014

ISBN 9783456953441 , 248 Seiten

Format PDF, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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26,99 EUR

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Diese als «discernability gap» oder «disability paradox» bekannte Differenz beschreibt, dass ein hoher Grad an subjektiver Zufriedenheit mit objektiven Einbrüchen bezüglich Kognition, Gesundheit und Verhalten einhergehen kann – eine Differenz, die auch bei alten Menschen ohne Demenz festzustellen ist. Der Grund eher niedriger Beurteilungen der Lebensqualität durch Dritte könnte am Belastungserleben der Angehörigen liegen, insbesondere im Frühstadium der Demenz, wenn die Anpassung an ein Leben mit Demenz noch nicht erfolgt ist (Conde-Sala et al., 2013) oder aber in späteren Phasen, wenn die hohe Abhängigkeit der Personen und ihre zunehmende Apathie zu Buche schlägt (Conde-Sala et al., 2009). Bei professionell Pflegenden kann es an der Arbeitszufriedenheit, den ständigen Unterbrechungen antizipierter Arbeitsschritte, am herausfordernden Verhalten (beispielsweise hohes Bindungsbedürfnis der Person mit Demenz) und an der gesteigerten Abhängigkeit der Klienten liegen, dass die Unterschiede zwischen der Selbstund Fremdeinschätzung groß ausfallen (Mittal/ Rosen, 2007).

1.5 Beobachtung

Eine andere Alternative zur Befragung besteht in der direkten Beobachtung, beispielsweise mit DCM. Die person-zentrierte Hintergrundtheorie von DCM geht davon aus, dass das Erleben und das Verhalten von Menschen mit Demenz und damit auch die Entwicklung und der Verlauf der Krankheit selbst von der unmittelbaren physischen, sozialen und psychischen Umgebung abhängen. Oft wird Erleben und Verhalten zu wenig auf das Hier und Jetzt, auf die konkrete physische, psychische und soziale Umgebung bezogen (Innes/Surr, 2001). Idealerweise sollte die Sichtweise und das Erleben des Klienten im Kontext der routinisierten Tagesabläufe eingebettet und aus diesem heraus verstanden werden (Townsend-White et al., 2012). Betrachtet man Erleben und Verhalten isoliert, was zum Beispiel quantitativ durch Zählung der Affekte beziehungsweise retrospektiv, zusammenfassend aus der Wahrnehmung der Professionellen in Form eines Fragebogens geschieht, dann wird zu wenig aufgedeckt, wie das Erleben und Verhalten im Laufe eines Tages konkret zustande kommt. Es fehlt der Zusammenhang zwischen Prozess und Ergebnis.

Der große Vorteil von Beobachtungen ist der Fokus auf dem Mikrokosmos des sozialen Lebens, der Blick auf die marginalen, nicht verallgemeinerbaren, oft verborgenen Elemente der Praxis: «... der Fokus der Aufmerksamkeit liegt auf den Einzelnen und deren immer wieder sich verändernden Beziehungen und nicht auf der zeitlosen, homogenen, kohärenten, und strukturierten Natur der Untersuchungsgruppe.» (Angrosino, 2005: 741; englischer Originaltext: «[...] the focus being on individuals and their ever changing relationships rather than on ... homogeneous, coherent, patterned, and [...] timeless nature of the supposed group». Übersetzung Christian Müller-Hergl.) Es geht demnach um die Beziehung von Kontext und Affekt in einer zeitlichen Perspektive: hier wird dann beispielsweise deutlich, dass Personen mit mehr Interaktion mehr Freude, aber auch mehr Ärger zeigen, dass strukturierte Zeit mit ausgeprägteren Affekten zusammenhängt, zugleich aber an Personen mit schwerer Demenz gleichsam vorbeilaufen. Mahlzeiten stellen für viele Personen Höhepunkte des Tages dar, der frühe Nachmittag ist für Menschen mit schwerer Demenz oft die aktivste Zeit des Tages, die Person und Persönlichkeit der Professionellen ist mit der wichtigste Faktor für das Entstehen oder Reduzieren von Wohlergehen, und Eins-zu-eins-Situationen gehen mit dem höchsten Wohlbefinden einher (Lawton, 2001; Wood et al., 2009; Vasse et al., 2010; Cohen-Mansfield et al., 2010). Viele Befunde lassen keine Generalisierung zu, sondern tragen zur Vermehrung spezifischer Aufmerksamkeit in den kleinen, aber für das Wohlbefinden wichtigen Dingen des Alltags bei: beispielsweise Geschirr nicht abzuräumen, weil dies lange anhaltend und wiederholt von Klienten gestapelt wird; immer wieder für genügend Krümel auf den Tischen Sorge tragen, weil dies dazu einlädt, diese aufzupicken; Personen erlauben, sich, wenn ein Delir ausgeschlossen ist, kriechend fortzubewegen (sichere kinästhetische Grundposition), weil sie dann weniger Unruhe zeigen.

1.6 Es gibt keine «Cadillac-Version»

Jedes Verfahren hat seine Stärken und Schwächen, keines kann als Goldstandard gelten und für sich in Anspruch nehmen, die finale «Cadillac-Version» der Lebensqualität darzustellen. An die Stelle eines «Goldstandards» treten objektive und subjektive Daten unterschiedlicher Quellen und Perspektiven auf dem Hintergrund unterschiedlicher Theorien. Daher gilt es, bei der Frage nach der Lebensqualität die Zielrichtung und den Standpunkt des Fragenden zu verdeutlichen.

Da die Möglichkeit entfällt, Wahrnehmungen und Deutungen des externen Beobachters durch eine verbale Ebene abzusichern, weil die beobachtete Person nicht ständig gefragt werden kann, ob der Interpretation des beobachteten Verhaltens zugestimmt wird, werfen reine Beobachtungsverfahren die Frage auf, wie sich die Subjektivität des Beobachters kontrollieren (validieren) lässt, um Projektionen entgegen zu wirken (Lawton et al., 2000). Dies erfordert einen höheren Trainingsaufwand und Methoden, die durch Regelwerke und Erhebung der InterRater-Reliabilität die Qualität der Ergebnisse sichern. Dies gilt natürlich gleichermaßen bei der Befragung Dritter wie beispielsweise der Professionellen. Auch hier muss validiert werden, ob die Einschätzungen übereinstimmen, das heißt reliabel sind. Was also spricht für die Beobachtung? Liegt bei Menschen mit Demenz eine geringe Introspektionsfähigkeit auf dem Hintergrund mangelnder Fähigkeit zur Selbstvergewisserung und umfassender Einbrüche im sprachlichen Bereich vor (Held, 2013), dann kann das Wohlbefinden eher durch Beobachtung ermittelt werden. Demenz verstanden als dissoziativer, diskontinuierlicher Bewusstseinszustand wirft auch die Frage nach Belastbarkeitsgrenzen für Befragungen auf: die Ergründung des Willens, das Anbieten von Auswahlmöglichkeiten und Befragungen zur Befindlichkeit können Angst und Leiden auch verstärken.

Was dagegen spricht für die Befragung? Die Arbeiten von Clare et al. (Clare, 2002; Clare/ Wilson, 2006; Clare et al., 2011) haben ergeben, dass das Konzept von «Bewusstsein» und «Selbstbewusstsein» komplex und vielfältig ausfällt und Personen bezüglich Belangen, die sie unmittelbar und persönlich betreffen, bis weit in die schwere Demenz hinein befragbar sind. Eine differenziertere Betrachtung der Einsichtsfähigkeit einer Person mit Demenz könnte verhindern, dass Einbrüche in einer Dimension auf alle Bereiche generalisiert und damit wichtige Bereiche, in denen Einsicht weiterhin besteht, übersehen werden. Es gilt demnach, an den individuellen Ausdrucksformen und Ausdrucksmöglichkeiten der Person mit Demenz Anschluss zu finden und ein dafür passendes Repertoire von Methoden anzusetzen. Kate Allen (2001) hat Wege aufgewiesen, dies mit einem reichhaltigen Mix unterschiedlicher Möglichkeiten (indirekte Befragung, Arbeit mit Bildern und Objekten) zu bewerkstelligen.

Beobachtung und Befragung schließen einander nicht aus und können einander ergänzen. Nicht zuletzt hängt die Wahl der Methode von den Kompetenzen und Belastbarkeitsgrenzen der Person mit Demenz ab. Zudem ist die Fragestellung von Belang: Wird eher eine Momentaufnahme des Wohlbefindens angestrebt oder eine Einsicht, wie sich das Befinden über einen bestimmten Zeitraum hinweg entwickelt? Für Beobachtungen könnte als best practice gelten, Kontakt zur beobachtenden Person aufzunehmen und danach zu fragen, wie es ihr geht.

1.6.1 Sind Selbstauskünfte unhinterfragbar?

Soweit vorhanden, sind Selbstauskünfte zunächst als nicht hinterfragbar anzunehmen (Brod et al., 1999) beziehungsweise es macht sprachlogisch keinen Sinn, dies zu bezweifeln. Dennoch sind die Auskünfte im Kontext zu lesen: je höher die Abhängigkeit von anderen, desto schlechter schätzen Personen mit Demenz ihre Lebensqualität ein (Andersen et al., 2004). Bei Abhängigkeit, insbesondere bei Immobilität, ist demnach eher mit negativer Einschätzung der Lebensqualität zu rechnen. Ähnliche Befunde betreffen das Ausmaß der Depressivität, die Einsicht in die eigene Situation, die psychiatrische Komorbidität (insbesondere Persönlichkeitsstörungen, paranoide Übertragungen, neuropsychiatrische Symptome) sowie die Faktoren Multimorbidität, Multichronizität und Polypharmazie (Pfeifer et al., 2013; Sousa et al., 2013). All dies sind Faktoren, die das Urteil der Person deutlich beeinflussen und die in der Bewertung der Selbstauskünfte berücksichtigt werden müssen – ohne sie damit zu entwerten.

Um die Beziehungen zwischen der Einsicht einer Person, zwischen möglicher Depressivität und den Selbstbekundungen zur eigenen Lebensqualität zu deuten, bedarf es einer fachlichen Auseinandersetzung. Hier ist einerseits festzuhalten, dass Einbrüche in den kognitiven Funktionen und Tätigkeitseinschränkungen in den Selbstbekundungen betroffener Personen nicht unbedingt zu geringerer Lebensqualität führen. Dennoch werden Möglichkeiten, die eigenen kognitiven Funktionen zu verbessern, mit einer höheren Lebensqualität in Verbindung gebracht (Banerjee et al., 2009). Dies legt die Frage nahe, welche sozial bedingten Hinter grundfaktoren – zum Beispiel familiäre Modelle, Selbstkonzepte, lebensgeschichtlich gewonnene Haltungen – die Einschätzungen der Personen bestimmen könnten.

Dies könnte folgendermaßen interpretiert werden: Vor dem Hintergrund negativer Einstellungen zum Altern werden Einbrüche im Gedächtnis als sehr belastend wahrgenommen, wobei nicht der objektive Schweregrad der Gedächtniseinbussen, sondern deren subjektive Bewertung ausschlaggebend ist. Diese Wahrnehmung und Bewertung führt dazu, Altern (mit Demenz) als fortlaufenden psychosozialen Verlust zu erleben und die eigene Lebensqualität negativ zu bewerten. Lebensqualität wird demnach nicht nur durch eine Einschätzung der gegenwärtigen Lebenslage und Umstände, sondern durch fortbestehende Haltungen zum Altern vor dem Hintergrund von persönlichen Einstellungen und Persönlichkeitseigenschaften bestimmt. Diese schlagen sich insbesondere in der Stimmung und in Bewertungen der Affektivität nieder (Gomez-Gallego et al., 2012).

Daher wird die Übernahme gesellschaftlich erzeugter negativer Stereotypien in das Selbstbild als einflussnehmend auf die Selbsteinschätzung negativer Lebensqualität diskutiert und dies scheint auch umgekehrt zu gelten: je positiver die Haltung zum Altern, desto höher die Anpassungsfähigkeit an veränderte Lebensumstände und Widerstandsfähigkeit gegen Belastungen. Es steigt dann die Wahrscheinlichkeit, trotz gesundheitlicher Einbrüche in Form von kognitiven und tätigkeitsbezogenen Kompetenzeinbrüchen die Lebensqualität hoch einzuschätzen (Trigg et al., 2012; Banerjee et al., 2009). Zusammenfassend gibt es eine Reihe von distalen und proximalen Kontexten, die eher mit einer hohen Selbsteinschätzung der Lebensqualität einhergehen sowie Kontexte, die dies eher weniger wahrscheinlich machen.