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Unter Damen - Roman

Claudia Keller

 

Verlag Blanvalet, 2002

ISBN 9783894806866 , 278 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,49 EUR

  • Du gibst das Leben - Das sich wirklich lohnt
    Der Bankräuber - Die wahre Geschichte des Farzad R.
    Den Himmel gibt's echt - Die erstaunlichen Erlebnisse eines Jungen zwischen Leben und Tod
    Der Geschmack des Wassers - Der Hexenprozess von Dillenburg
    Zeit der Vergebung
    Die Zehn Gebote - Anspruch und Herausforderung
    Hurentaten - Die Erlebnisse eines Wiener Mädchen
    Mein Herz kennt die Antwort
  • Bleib cool, Papa - Guter Rat für viel beschäftigte Väter
    Basiszertifikat im Projektmanagement (GPM) - überarbeitet 2010
    Economic Spillovers, Structural Reforms and Policy Coordination in the Euro Area
    Molecular Targeting in Oncology
    Management of Convergence in Innovation - Strategies and Capabilities for Value Creation Beyond Blurring Industry Boundaries
    Seminar on Stochastic Analysis, Random Fields and Applications V - Centro Stefano Franscini, Ascona, May 2005
    Elfenkind - Ein Vampir auf der Suche nach der Wahrheit. Und ein Elfenkind, das den Schlüssel zu allem in sich trägt ...
    Alphavampir (Alpha Band 2) - Fortsetzung der Paranormal Romance um eine Gruppe Gestaltwandler
 

 

Auf die Frage, was sie sich zu ihrem fünfzigsten Geburtstag wünsche, hatte Konstanze Vogelsang geantwortet: »Frieden für die Welt und Gesundheit für die Familie«, eine Antwort, von deren Richtigkeit sie zutiefst überzeugt war.
Konstanzes Geburtstag fiel auf den Heiligen Abend, was allein schon eine Menge Streß bedeutet. Aber wie groß wäre die Belastung erst gewesen, wenn ihr jemand prophezeit hätte, daß sie sich im Grunde ihres Herzens weniger den »Frieden für die Welt« als einen jungen Liebhaber wünsche und daß ihr dieser Wunsch im neuen Lebensjahr endlich erfüllt werde. Konstanze hätte den Kopf zurückgeworfen und das typische Konstanze-Lachen ertönen lassen.
»Auf daß der Himmel mich damit verschone...«
Sie hatte inzwischen ein Alter erreicht, in dem Generationskonflikte unvermeidlich werden, und wünschte sich, wie sie mit feiner Ironie bemerkte, besagten Konflikt nicht bis ins Bett hinein. Allein zu schlafen, das betrachtete sie seit dem Tod ihres Mannes als kostbares Privileg.

Seitdem sie Witwe war, war das Wohnen zu ihrer Lieblingsbeschäftigung geworden. Sie liebte das behagliche Walmdachhaus, in dem sie seit dreißig Jahren lebte, wie einen nahen Verwandten.
Ja, sie liebte es sogar mehr als die meisten ihrer Verwandten, da es sich im Gegensatz zu diesen ganz nach Belieben dekorieren und umgestalten ließ. Es ließ sich auch hervorragend vorführen, und es war nicht zu befürchten, daß es sie jemals blamieren würde.
Der Beifall ihrer Gäste war ihr sicher.
Weder mit ihrem Mann noch mit ihren Kindern hatte sie auf so dezente Weise angeben können.
Konstanze ging in die Küche hinüber und warf einen Blick in das angrenzende Eßzimmer mit seinen handgewebten Teppichen und dem großen Tisch, an dem Gerald und sie so viele Abende im Kreise ihrer Freunde verbracht hatten.
»Konstanzes Tisch« war immer eine feste Größe im Babelsburger Gesellschaftsleben gewesen, und sie war dankbar, daß der Freundeskreis nach Geralds Tod nicht auseinandergefallen war.
Die Babelsburger Gattinnen brauchten keine Angst zu haben, daß die attraktive Witwe ein Auge auf ihre Männer werfen und deren Herzen in Unruhe versetzen könnte. Konstanze war sich selbst genug, was ein wenig arrogant und ungemein beruhigend war.
Sie polierte die schwere Silberplatte, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, noch einmal nach und freute sich, daß sie auch nach Jahrzehnten nichts von ihrem Glanz eingebüßt hatte. Konstanze besaß Sinn für Stil und Tradition, und es stimmte sie traurig, daß ihre Schwiegertochter Verena nicht so ganz zur Familie paßte. Konstanze verbot es sich, negativ über Verena zu denken, denn wenn sie eine Rolle ablehnte, so war es die der Schwiegermutter, die alles besser wußte, auch wenn es in ihrem Fall durchaus zutraf. Aber insgeheim träumte sie davon, die alte Familienrunde wieder einmal ganz »intern« genießen zu können, ohne fremde Elemente wie eine Schwiegertochter und ein zahnendes Baby. Es würde lange dauern, bis Vito alt genug war, den Familienton zu beherrschen: ironisch, bildhaft und voller Andeutungen.
Natürlich behielt Konstanze diese Gedanken für sich, denn sie paßten nicht zum Bild einer rund um die Uhr liebenden Großmutter.

Um sechzehn Uhr hatte Konstanze ihre Vorbereitungen beendet. Wie stets war der Tisch festlich in Weiß und Silber gedeckt, der Baum in den traditionellen Farben Rot und Gold geschmückt. Der Karpfen lag fertig gespickt auf dem Rost, Silberschalen mit Gebäck und Nüssen standen auf den Beistelltischen bereit.
Nach alter Tradition waren die Geschenke auf dem niedrigen Kamintisch arrangiert. Konstanze hatte die schwere Brokatdecke mit Hilfe von Goldschnüren gerafft und die Geschenke passend zu den Farben der Decke verpackt: mattglänzendes Grün, tiefes Rot und schillerndes Gold.
So ungern sie sich in der Vorweihnachtszeit durch die Stadt quälte, so leidenschaftlich gab sie sich der Verpackungslust hin. Die Geschenke gerieten auf diese Weise zu Kunstwerken, die man am besten zunächst einmal unausgepackt ließ, zumal sie meist genau das enthielten, was man sich gewünscht hatte. Konstanze war stets der Meinung gewesen, daß man einen Wunsch lieber erfüllen sollte, als auf den Moment der Überraschung zu vertrauen. Überraschungen, das hatte sie allzuoft erleben müssen, fielen meist unangenehm aus.
Eigentlich, dachte sie und lachte ein wenig in sich hinein, deckte sie den Gabentisch in erster Linie aus dem Grund, weil er ein so hervorragendes Stilelement in dem weihnachtlich geschmückten Zimmer ergab.
Konstanze ließ den Blick über die üppige Dekoration schweifen und trat ans Fenster. Auch der winterliche Garten spielte in ihrem Weihnachtsmärchen eine wichtige Rolle. Der Rauhreif hatte die Tannen verzaubert, und die Steinputten wirkten wie Figuren aus einer anderen Welt.
Diesmal war alles genau so gelungen, wie sie es sich erträumt hatte und wie es leider nur selten geschah. Meist klatschte am Weihnachtstag der Regen gegen die Scheiben, oder die Sonne schien ins Zimmer und stahl der Dekoration den Glanz.
Dunkel und kalt sollte Weihnachten sein.
Still und starr...
Um siebzehn Uhr stieg sie in die Badewanne und streckte sich wohlig im heißen Wasser aus. Nach Geralds Tod hatte sie das Bad umgestalten lassen. Aus der gekachelten Naßzelle war ein gemütlicher Salon geworden, mit einer samtbezogenen Récamiere, Kübelpflanzen und wandhohen Spiegeln. Als die Spiegel montiert wurden, hatte Konstanze sich gefragt, wie lange sie es wohl noch genießen könnte, sich nach dem Bad von allen Seiten zu betrachten, aber als sie sich jetzt abfrottierte, dachte sie zufrieden, daß es noch eine Weile dauern würde, bis sie die Beleuchtung des Bades auf die kleinen Lampen über dem Waschtisch reduzieren mußte, um ihre gute Laune zu behalten. Sie war immer noch schlank und hielt sich gerade und hatte nicht mit überflüssigen Pfunden zu kämpfen wie die meisten Frauen ihres Alters. Ein Verdienst von Haus und Garten, dachte sie. Eine bewegliche Treppauf-Treppab-Figur.
Gut gelaunt schlüpfte sie in die Samtjeans und stopfte die rosafarbene Seidenbluse in den Bund. Der schmale Perlengürtel, den sie bereits seit zwanzig Jahren besaß und der jedes ihrer Weihnachtsfeste begleitet hatte, war noch immer auf demselben Loch zu schließen wie damals, nur daß sie ihn nach dem Essen heimlich ein wenig lockern würde. Konstanze nahm die Wickler aus den Haaren, drehte sie zu einer dicken Rolle zusammen und steckte die Haarspitzen unter dem Ansatz fest. Ihr dichtes Haar war von einem matten Blond, so daß die wenigen Silberfäden kaum auffielen. Sie betrachtete sich von allen Seiten, stellte fest, daß sie einen guten Tag hatte, und zwinkerte sich im Spiegel zufrieden zu. Dann klemmte sie sich die Perlenclips an die Ohren.

In der Küche krempelte sie die Ärmel hoch, putzte den Salat und goß die vorbereitete Marinade über den Karpfen. Sowohl Mathilda als auch Verena hatten sie eingeladen, Weihnachten einmal bei ihnen zu feiern, um ihr die Arbeit zu ersparen. Konstanze hatte sich herzlich für die gute Idee bedankt, aber dann hatte sie allerlei Gründe angeführt, die erleichtert aufgenommen worden waren. Bei ihr war Platz genug, man konnte bequem übernachten, und es entsprach doch auch der Tradition.
Aber die Wahrheit war, daß sie sich bei ihren Kindern immer ein wenig fremd fühlte. Seitdem ihre Tochter Mathilda einen Job beim Funk hatte, bewohnte sie ein Studio in der Stadt, eine Art riesigen Allraum mit gefliestem Boden und Designermöbeln. Sie würde bei einem Szene-Italiener einen Tisch bestellen, die Karte herumgehen lassen und zuletzt ihre Scheckkarte zücken. Verena und Till, die fünfzig Kilometer von Babelsburg entfernt ein Bauernhaus gekauft hatten, hätten Platz genug für eine Familienfeier, aber Konstanze graute bei dem Gedanken, an Verenas Küchentisch Weihnachten feiern zu müssen.
Da sie wie üblich gut geplant hatte und nicht in Zeitnot geraten war, konnte sie sich vor der Ankunft der Gäste noch eine Entspannungszigarette und einen Sherry gönnen. Sie hatte das Glas gerade eingeschenkt, als das Telefon läutete.
Hoffentlich keine einsame Freundin, die die Geburtstagsgratulation zum Anlaß nimmt, langatmig von ihrer Winterreise zu erzählen, dachte sie, während sie den Hörer abnahm.
Es meldete sich aber keine der vertrauten weiblichen Stimmen.
Es meldete sich ein Mann.
»Guten Abend, hier ist Christian!«
Seit Geralds Tod waren Männerstimmen in Konstanzes Leben so gut wie verstummt, wenn man von der Stimme des Schornsteinfegers und des Briefträgers einmal absah. Konstanze war ein wenig irritiert.
»Wer bitte?«
»Christian Lennert, wir waren einmal so gut wie verlobt!«
Er klingt noch genauso wie früher, dachte Konstanze, ein Gedanke, dem sofort eine Warnung folgte: Nur nicht auf ein langes Erinnerungsgespräch einlassen. Heute ist Heilig Abend, da ruft man nicht zur Zeit der Bescherung an.
Sie gab ihrer Stimme einen ironisch-distanzierten Klang:
»Das ist mir entfallen.« Sie probierte ein Lachen. »Wir haben uns lange nicht gesehen!«
»Zweiunddreißig Jahre«, sagte Christian. »Wie geht es dir?«
Konstanze dachte, daß es höchste Zeit war, den Backofen vorzuheizen. Der Karpfen brauchte fünfundvierzig Minuten, und sie wollte ihn in den Ofen schieben, sobald das Klingelzeichen der Kinder ertönte, und das konnte jeden Moment der Fall sein.
»Gut«, erwiderte sie. »Und dir?«
»Im Moment wunderbar. Du klingst noch genauso wie früher!«
»Ich erwarte gerade Gäste«, sagte sie ein wenig hilflos. »Vielleicht hast du es vergessen, aber wir haben Heilig Abend.«
Diesen Hinweis überging er.
»Ich rufe nicht zu Weihnachten an, sondern um dir zum Geburtstag zu gratulieren. Herzlichen Glückwunsch.«
»Danke!«
»Siehst du noch immer so gut aus?«
»Noch besser«, sagte Konstanze und hätte die Worte am liebsten wieder zurückgenommen. Sie schmeckten ein wenig nach Koketterie, und ein Mann wie Christian würde falsche Schlüsse daraus ziehen. Da kam es schon: »Dürfte ich so unverschämt sein, mich einfach zum Festmenü einzuladen?«
Eine Sekunde lang fand Konstanze die Idee, ihren fünfzigsten Geburtstag mit einem alten Jugendfreund zu feiern, recht verlockend, aber sie verwarf die Idee ebenso schnell, wie sie gekommen war. Christian würde ein Fremdkörper in der Runde sein, er würde das Gespräch an sich reißen, und wie sollte sie ihn ihren Kindern erklären? Konstanze liebte keine Überraschungen, und sie mutete sie auch anderen nicht gerne zu.
»Sei nicht böse, wir feiern im engsten Familienkreis, aber ein anderes Mal wird sich sicher eine Gelegenheit ergeben.«
Plötzlich durchfuhr sie ein Schreck, Christians Stimme klang so nah, möglicherweise war er ja schon in Babelsburg.
»Von wo rufst du denn an?« fragte sie mißtrauisch.
»Von zu Hause!«
»Und wo ist das?«
»Etwas außerhalb von Marbach.«
»Na«, sie lachte erleichtert auf, »dann werden wir uns ja sicher einmal sehen.«
»Wann? Morgen?«
Widerwillig mußte Konstanze lachen. Was hatte Christian studieren wollen? Richtig, Zahnmedizin. Er war mit einem Bohrer in der Hand zur Welt gekommen.
»Sagen wir, irgendwann im Frühjahr«, antwortete sie ausweichend.
»Am Valentinstag?«
Um ihn loszuwerden, stimmte sie zu. Vielleicht war es ja wirklich ganz erheiternd, in alten Jugenderinnerungen zu kramen, vielleicht sogar recht interessant, sich nach dreijähriger Witwenschaft wieder einmal mit einem Mann zu treffen.
»Meine Frau hat mich verlassen«, erklärte er unvermittelt, als ob er auf die Dringlichkeit des Treffens noch einmal hinweisen müsse.
»Ich bin auch allein«, erwiderte Konstanze und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Dieser Satz klang ja fast schon wie ein Angebot. Christian schien das auch so zu sehen.
»Geschieden?« fragte er lauernd.
»Verwitwet.«
»Das tut mir leid.«
»Mir auch!«
»Ist es schon länger her?«
»Die Narbe schmerzt noch«, erklärte Konstanze trocken.
»Ich wünsche dir, daß es irgendwann nachläßt«, sagte er.
»Das hoffe ich nicht«, erwiderte sie.
»Ich melde mich dann noch mal«, sagte Christian, »was hatten wir noch gesagt? Silvester?«
Wieder mußte sie lachen. Die Hartnäckigkeit seiner Jugendzeit hatte er sich bewahrt. Sie war der Schlüssel seines Erfolges.
»Valentinstag«, erwiderte sie. »Vierzehnter Februar. Vergiß die Blumen nicht.«
Sie dachte daran, daß Christian schon in jungen Jahren nicht zu jenen romantischen Freiern gehört hatte, die ihre Angebetete mit Rosenbouquets verwöhnten. Als Zahnarzt war er es gewöhnt, daß auch kleinste Mengen eine große Wirkung haben konnten.
»Ja, dann wünsche ich dir fröhliche Weihnachten im Kreise deiner Lieben«, sagte er nun doch ein wenig verunsichert. »Ich feiere übrigens allein«, fügte er etwas hastig hinzu. »Mein Sohn hat es vorgezogen, das Fest bei seiner abtrünnigen Mutter zu verleben.«
Konstanze hatte das dringende Bedürfnis, das Gespräch endgültig zu beenden. Scheidungsgeschichten interessierten sie nicht. Sie fühlte sich beim Austausch von Intimitäten immer ein wenig unwohl.
»Sicher hängt er sehr an ihr«, sagte sie abschließend.
»Sie kocht besser als ich«, erwiderte Christian. »Und außerdem war er schon immer ein Muttersöhnchen.«

Verdammte Plage, die Verwandten. Aber sie machen einen so verdammt achtbar.
Oscar Wilde
Am Heiligen Abend gegen achtzehn Uhr versuchte Till seine Mutter anzurufen, um ihr zu sagen, daß sie sich leider etwas verspäten würden, aber die Leitung war besetzt. Er war irritiert. Wer konnte Konstanzes Anschluß um diese Zeit so ausdauernd blockieren? Großmutter Louise würde um diese Zeit sicher nicht anrufen. Man würde sich in diesem Jahr ausnahmsweise erst nach dem Fest treffen, wenn Louise zu ihrem traditionellen »Tee zwischen den Jahren« bat, und auch sonst fiel ihm niemand ein, der so taktlos war, Konstanze am Heiligen Abend telefonisch zu belästigen. Konstanze wurde geschätzt, aber auch ein wenig gefürchtet. Ihrer gesellschaftlichen Sicherheit und der kühlen Distanz wegen, die ihr angeboren war.
Während er zum wiederholten Mal die vertraute Nummer wählte, ließ er seinen Blick über die alten Fliesen gleiten, mit denen der Korridor belegt war. Sie bildeten ein hübsches Muster mit einem Blumendekor am Rand, aber die meisten waren gesprungen, und unter der Tür zum Hof zog es eiskalt ins Innere des Hauses. Er hätte die Tür längst abdichten müssen, aber er war einfach nicht dazu gekommen.
Verena und er hatten das alte Bauernhaus mit Stall und Scheune kurz nach der Hochzeit gekauft; es handelte sich um eine sogenannte Hofreite, die zur Straße hin von einem haushohen Holztor verschlossen war. Vor allem Verena war ganz entzückt von der Idee gewesen, das Anwesen zu renovieren und den Stall zu einem Gästehaus auszubauen, den Innenhof zu begrünen und auf dem Stück Land hinter der Scheune eigenes Gemüse anzubauen, biologisch einwandfrei und für den Eigenbedarf. Aber dann war das bis dahin gut florierende Geschäft für Computerdesign zurückgegangen, und er hatte erst den ersten und dann den zweiten Mitarbeiter entlassen müssen. Die Freude, mit der er sich anfangs der Hausrenovierung hingegeben hatte, war einer mühsamen Pflichterfüllung gewichen. Seit einiger Zeit lebte er in dem Gefühl ständiger Überforderung, und seit Vitos Geburt war eine lähmende Müdigkeit hinzugekommen. Das nächtliche Geschrei zerrte an seinen Nerven, und manchmal fragte er sich, wie er den täglichen Anforderungen gewachsen sein sollte, wenn er, anstatt zu schlafen, in der Küche stand und Breifläschchen wärmte.
Noch ließ er nichts von seinem Unmut merken und hoffte, daß Verena von selbst merken würde, was los war, aber sie war der Meinung, daß sie sich ja den ganzen Tag um das Baby kümmere und es einfach unerläßlich für ihn sei, diesen Part am Abend zu übernehmen.
Oder wollte er, daß ihm Vito so fern blieb, wie sein Vater für ihn gewesen war? Vater-Sohn-Spiele hatte es in seiner Jugend ausschließlich in den Ferien gegeben, aber hatte er sie in der übrigen Zeit eigentlich vermißt?
Heimlich zweifelte Till daran, daß es für die Entwicklung des Babys wirklich notwendig war, daß Verena ihm ihre gesamte Zeit widmete und darüber den Haushalt gänzlich vernachlässigte.
Till verabscheute die Unordnung, die im Hause herrschte, und registrierte unmutig den Schmutz auf den Fliesen und die Fingerabdrücke auf den Türen. Aber er äußerte sich nicht dazu, denn er wollte kein Macho sein, der seine Frau bevormundete.
Halb sechs.
Er legte den Hörer auf die Gabel und trieb Verena zur Eile an.
Sie hatte sich noch nicht umgezogen, sondern die Zeit damit verbracht, Vito in einen neuen Krabbelanzug zu stecken und mit einem Schirmmützchen herauszuputzen.
Verena warf ihm einen verunsicherten Blick zu und begann planlos, irgendwelches Zeug in eine große Plastiktasche zu stopfen und auf der Suche nach einer Wagendecke hektisch im Haus herumzulaufen.