dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Der Insektensammler - Roman

Jeffery Deaver

 

Verlag Blanvalet, 2002

ISBN 9783894807139 , 480 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR

  • Hurentaten - Die Erlebnisse eines Wiener Mädchen
    Dep - Fre
    Das Gesicht des Drachen - Ein Lincoln-Rhyme-Roman
    Risiken des Unternehmens
    Personalarbeit der Zukunft
    Das 360°-Feedback: Alle fragen? Alles sehen? Alles sagen?
    Assessment Center: Bestandsaufnahme und Kritik

     

     

 

 

Nördlich des Paquo

...Eins
Sie kam hierher, um Blumen an der Stelle niederzulegen, wo der Junge getötet und das Mädchen entführt worden war.
Sie kam hierher, weil sie eine dickliche junge Frau mit narbigem Gesicht war und nicht viele Freunde hatte.
Sie kam her, weil man es von ihr erwartete.
Sie kam, weil sie es wollte.
Schwitzend und schwerfällig lief die sechsundzwanzigjährige Lydia Johansson auf dem unbefestigten Bankett der Route 112 entlang, an der sie ihren Honda Accord geparkt hatte, und stieg dann vorsichtig die Böschung zu dem sumpfigen Ufer hinab, wo der Blackwater Canal in die trüben Fluten des Paquenoke mündete.
Sie kam hierher, weil sie dachte, es gehöre sich so.
Sie kam her, obwohl sie Angst hatte.
Die Sonne war erst vor kurzem aufgegangen, aber seit Jahren war es in North Carolina im August nicht mehr so heiß gewesen, und Lydia hatte ihre weiße Schwesterntracht schon fast durchgeschwitzt, als sie auf die von Weiden, Tupelo- und breitblättrigen Lorbeerbäumen umstandene Lichtung am Flussufer zuging. Mühelos fand sie die gesuchte Stelle - das gelbe Absperrband der Polizei stach sofort ins Auge.
Frühmorgendliche Geräusche. Haubentaucher; ein Tier, das ganz in der Nähe im dichten Unterholz herumstöberte; der heiße Wind, der durch Schilf und Sumpfgras strich.
Herrgott, ich fürchte mich, dachte sie. Nur zu deutlich standen ihr all die grusligen Szenen aus den Romanen von Stephen King und Dean Koontz vor Augen, die sie spätabends mit ihrem Bettgefährten las - einem Becher Eiscreme.
Wieder raschelte es im Unterholz. Sie zögerte, blickte sich um. Dann ging sie weiter.
»He.« Eine Männerstimme. Ganz in der Nähe.
Lydia keuchte und fuhr herum. Fast hatte sie die Blumen fallen lassen. »Hast du mich erschreckt, Jesse.«
»Tut mir Leid.« Jesse Corn stand hinter einer Trauerweide nahe der abgesperrten Lichtung. Lydia bemerkte, dass sie beide wie gebannt auf das Gleiche starrten: den weiß schimmernden Umriss einer Gestalt am Boden, dort, wo man die Leiche des Jungen gefunden hatte. Rund um die Stelle, wo der Kopf eingezeichnet war, befand sich ein dunkler Fleck - altes Blut, wie sie als Krankenschwester sofort erkannte.
»Hier ist es also passiert«, flüsterte sie.
»So isses.« Jesse wischte sich über die Stirn und strich eine herabhängende blonde Haarsträhne zurück. Seine Uniform - die beigefarbene Kluft der Polizei des Paquenoke County - war staubig und zerknittert. Dunkle Schweißflecken breiteten sich unter den Armen aus. Er war dreißig und auf eine jungenhafte Art süß. »Seit wann bist du schon hier?«, fragte sie.
»Weiß ich nicht genau. Seit fünf etwa.«
»Ich hab ein anderes Auto gesehen«, sagte sie. »Droben an der Straße. Ist Jim hier?«
»Nö. Ed Schaeffer. Er is auf der andern Seite vom Fluss.« Jesse deutete mit dem Kopf auf die Blumen. »Die sind hübsch.«
Lydia zögerte einen Moment, dann blickte sie auf die Margeriten, die sie in der Hand hatte. »Zwei neunundvierzig. Hab sie gestern Abend besorgt. Weil ich nicht gewusst habe, ob so früh schon jemand auf hat. Na ja, Dell's vielleicht, aber dort gibt's keine Blumen.« Wieso fing sie an, dummes Zeug zu faseln? Wieder blickte sie sich um. »Keine Spur von Mary Beth?«
Jesse schüttelte den Kopf. »Nicht die geringste.«
»Von ihm auch nicht, soll das vermutlich heißen.«
»Von ihm auch nicht.« Jesse schaute auf seine Uhr. Dann hinaus auf das dunkle Wasser, den dichten Schilfgürtel, das undurchdringliche Gras, den verfaulenden Bootssteg.
Lydia fand es nicht sehr beruhigend, dass ein Bezirks-Deputy, der einen schweren Revolver trug, anscheinend genauso nervös war wie sie selbst. Jesse stieg den mit Gras überwucherten Hang zur Straße hinauf. Er hielt inne, warf einen weiteren Blick auf die Blumen. »Nur zwo neunundneunzig?«
»Zwei neunundvierzig. Bei Food Lion.«
»Das is günstig«, sagte der junge Polizist, während er mit zusammengekniffenen Augen auf das dichte Meer aus Gras blickte. Er wandte sich wieder der Böschung zu. »Ich bin droben beim Streifenwagen.«
Lydia Johansson ging näher zum Tatort. Sie stellte sich Jesus vor und die Engel, und sie betete ein paar Minuten. Sie betete für die Seele von Billy Stail, der erst gestern Morgen an ebendieser Stelle von seiner sterblichen Hülle erlöst worden war. Sie betete darum, dass das Leid, das Tanner's Corner heimgesucht hatte, bald vorübergehen möge.
Sie betete auch für sich.
Wieder drangen Geräusche aus dem Unterholz. Ein Knacken, Geraschel.
Inzwischen war es heller, aber auch bei Sonnenschein wirkte Blackwater Landing nicht viel freundlicher. Der Fluss war hier ziemlich tief, gesäumt von modrigen schwarzen Weiden und dicken Zedern und Zypressen - einige waren abgestorben, andere noch nicht, aber alle mit Moos und den würgenden Ranken der Kupoubohne überwuchert. Im Nordosten, nicht weit von hier, lag der Great Dismal Swamp, und wie alle Expfadfinderinnen im Paquenoke County kannte sie sämtliche alten Sagen um dieses Sumpfgebiet: die Geschichte von der Frau vom See, dem Eisenbahner ohne Kopf... Aber nicht diese Gestalten waren es, die ihr zu schaffen machten; hier, in Blackwater Landing, ging ebenfalls ein Gespenst um - der Junge, der Mary Beth McConnell entführt hatte.
Lydia öffnete ihre Handtasche und zündete sich mit zittrigen Händen eine Zigarette an. Beruhigte sich etwas und spazierte am Ufer entlang. Blieb neben einem Streifen aus hohem Schilf und Rohrkolben stehen, die sich im sengenden Wind bogen.
Sie hörte, wie oben an der Straße ein Auto angelassen wurde. Jesse fuhr doch nicht etwa ab? Beunruhigt blickte Lydia die Böschung hinauf, sah aber, dass der Wagen nicht wegfuhr. Vermutlich lässt er bloß die Klimaanlage laufen, dachte sie. Als sie sich wieder dem Wasser zuwandte, fiel ihr auf, dass die Rohrkolben und das Schilf immer noch wogten, sich bogen, raschelten.
Als ob dort jemand wäre, der sich auf das gelbe Absperrband zubewegte und sich dabei dicht am Boden hielt.
Aber nein, natürlich nicht. Es ist nur der Wind, sagte sie sich. Und andächtig legte sie die Blumen in die Gabel einer knorrigen schwarzen Weide unweit des grausigen Umrisses der Leiche und der Blutlache, die so schwarz war wie das Wasser des Flusses. Wieder setzte sie zu einem Gebet an.

Auf der anderen Seite des Paquenoke lehnte sich Deputy Ed Schaeffer an eine Eiche und achtete nicht auf die Stechmücken, die seine bloßen Arme umschwirrten. Er ging in die Hocke und suchte den Waldboden erneut nach Spuren des Jungen ab.
Er musste sich an einem Ast abstützen; ihm war schwindlig vor Erschöpfung. Wie die meisten Deputys seiner Dienststelle war er seit fast vierundzwanzig Stunden auf den Beinen und suchte nach Mary Beth McConnell und dem Jungen, der sie entführt hatte. Aber während die anderen heimgefahren waren, um sich zu duschen, etwas zu essen und ein paar Stunden zu schlafen, war Ed vor Ort geblieben. Er war der älteste Deputy des Bezirks und der massigste obendrein (einundfünfzig Jahre alt und einhundertzwanzig Kilogramm schwer, größtenteils überflüssiges Fett), aber Müdigkeit, Hunger und steife Glieder hinderten ihn nicht daran, weiter Ausschau nach dem Mädchen zu halten.
Wieder musterte der Deputy den Boden.
Er drückte auf die Sendetaste seines Funkgeräts. »Jesse, ich bin's. Bist du da?«
»Schieß los.«
»Hier sind Fußspuren«, flüsterte er. »Sie sind frisch. Höchstens eine Stunde alt.«
»Meinst du, die sind von ihm?«
»Von wem denn sonst? So früh am Morgen, auf dieser Seite des Paquo?«
»Sieht so aus, als hättest du Recht gehabt«, sagte Jesse Corn. »Ich wollt's ja erst nicht glauben, aber du hast vielleicht doch den Nagel auf den Kopf getroffen.«
Ed war der Meinung gewesen, dass der Junge hierher zurückkommen werde. Nicht wegen des altbekannten Klischees, wonach der Täter stets zum Tatort zurückkehrt, sondern weil Blackwater Landing seit jeher sein Jagdrevier und er in den letzten Jahren immer hierher gekommen war, wenn er in Schwierigkeiten gewesen war.
Ed schaute sich um, ängstlich jetzt, da die Erschöpfung und die Beschwerden verflogen waren. Mit bangem Blick betrachtete er das heillose Gewirr von Blättern, Ranken und Ästen rundum. Herrgott, dachte der Deputy, der Junge ist hier irgendwo. Er sprach wieder in das Funkgerät. »Die Spur führt scheint's in deine Richtung, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Er ist hauptsächlich auf dem Laub gelaufen. Sperr die Augen auf. Ich schau nach, woher er gekommen ist.«
Mit knackenden Knien richtete Ed sich auf und folgte den Fußspuren des Jungen so leise, wie es bei seinem Gewicht ging, in die Richtung, aus der sie kamen - tiefer in den Wald hinein, weg vom Fluss.
Nach rund dreißig Metern sah er, dass sie zu einem alten Unterstand führten - einer grauen Hütte, groß genug für drei bis vier Jäger. Die Schießscharten waren dunkel, der Verschlag wirkte leer und verlassen. Okay, dachte er. Okay... Vermutlich ist er nicht da drin. Aber trotzdem.
Schwer atmend zog Ed Schaeffer seine Waffe, was er seit fast anderthalb Jahren nicht mehr getan hatte. Er hielt den Revolver mit schweißnasser Hand und rückte vor, ließ den Blick fortwährend vom Unterstand zum Boden wandern, bedachte jeden Schritt und achtete darauf, dass er sich so lautlos wie möglich näherte.
Hat der Junge eine Schusswaffe?, fragte er sich, als ihm klar wurde, dass er hier so ungedeckt war wie ein Soldat auf freiem Feld. Er stellte sich vor, dass in den Schießscharten da vorn jeden Moment ein Gewehrlauf auftauchen könnte, der auf ihn gerichtet war. Es wurde ihm mulmig zu Mute. Tief geduckt rannte er die letzten fünf Meter, bis er neben der Hütte war. Er drückte sich an das verwitterte Holz, rang mühsam nach Atem und lauschte eine ganze Weile. Drinnen war nichts zu hören, nur das leise Summen von irgendwelchen Insekten.
Okay, sagte er sich. Schau dich um.
Ed raffte sich auf, ehe ihn der Mut verließ, und blickte durch eine Schießscharte.
Niemand da.
Dann schielte er auf den Boden. Er grinste über das ganze Gesicht, als er sah, was dort lag. »Jesse«, rief er aufgeregt in sein Funkgerät.
»Was is?«
»Ich bin bei einem Unterstand, etwa fünfhundert Meter nördlich vom Fluss. Ich glaub, der Junge hat hier übernachtet. Da drin liegen ein paar leere Lebensmittelpackungen und Wasserflaschen. Außerdem eine Rolle Klebeband. Und rat mal, was noch? Eine Landkarte.«
»Eine Karte?«
»Genau. Anscheinend von der Gegend hier. Vielleicht finden wir dadurch raus, wo er Mary Beth hingebracht hat. Was hältst du davon?«
Aber Ed Schaeffer erfuhr nicht mehr, was sein Kollege zu diesem Fahndungserfolg zu sagen hatte. Der Schrei einer Frau schrillte durch den Wald, und Jesse Corns Funkgerät verstummte.

Lydia Johansson torkelte zurück und schrie erneut auf, als der Junge aus dem hohen Schilf sprang und sie mit grobem Griff an den Armen packte.
»Ach du lieber Gott, bitte tu mir nichts!«, bettelte sie.
»Halt's Maul«, fauchte er sie leise an, schaute sich hektisch um, warf ihr einen bösen Blick zu. Er war groß und schlaksig, wie fast alle Jungs in diesen kleinen Städten in Carolina, und er war stark. Seine Haut war rot und verquollen - allem Anschein nach war er in Giftsumach geraten -, und die kurzen stoppeligen Haare sahen aus, als hätte er sie selbst geschnitten.
»Ich hab bloß Blumen hergebracht... das ist alles! Ich hab nicht -«
»Schscht«, murmelte der Junge.
Aber gleichzeitig grub er seine langen, schmutzigen Nägel schmerzhaft in ihren Arm, und Lydia schrie erneut auf. Wütend presste er ihr die Hand auf den Mund. Sie spürte, wie er sich an sie drückte, nahm den säuerlich abgestandenen Schweißgeruch wahr, den er ausströmte.
Sie wandte den Kopf ab. »Du tust mir weh!«, sagte sie mit weinerlicher Stimme.
»Halt den Mund!« Seine Stimme schnappte über, und Speicheltropfen flogen ihr ins Gesicht. Er schüttelte sie wütend wie einen ungehorsamen Hund. Er verlor bei dem Gerangel einen seiner Turnschuhe, aber er achtete nicht darauf, sondern hielt ihr wieder den Mund zu, bis sie sich nicht mehr wehrte.
»Lydia? Wo bist du?«, rief Jesse Corn oben von der Straße aus.
»Schscht«, warnte der Junge sie erneut und sah sie mit weit aufgerissenen Augen und irrem Blick an. »Wenn du schreist, tu ich dir richtig weh. Verstanden? Hast du verstanden?« Er griff in seine Hosentasche und zeigte ihr ein Messer.
Sie nickte.
Er zog sie zum Fluss.
Nein, nicht dorthin. Bitte nicht, flehte sie ihren Schutzengel an. Lass nicht zu, dass er mich dort hinbringt.
Nördlich des Paquo...
Lydia blickte zurück und sah Jesse Corn, der knapp hundert Meter weiter hinten am Straßenrand stand, mit einer Hand die Augen vor der tief stehenden Sonne abschirmte und Ausschau hielt. »Lydia?«, rief er.
Der Junge zerrte sie weiter. »Herrgott, komm schon!«
»Hey!«, schrie Jesse, als er sie endlich sah, und lief die Böschung hinab.
Aber sie waren bereits am Flussufer, wo der Junge einen kleinen Kahn unter Schilf und Gras versteckt hatte. Er schubste Lydia in das Boot und stieß ab, legte sich in die Riemen und ruderte zum anderen Ufer. Er legte an und zerrte sie heraus. Dann schleifte er sie in den Wald.
»Wo willst du hin?«, flüsterte sie.
»Zu Mary Beth. Ich bring dich zu ihr.«
»Wieso?«, wisperte Lydia schluchzend. »Wieso mich?«
Aber er sagte nichts mehr, schnipste nur geistesabwesend mit den Fingernägeln und zog sie mit sich.

»Ed«, meldete sich Jesse Corn über Funk. Er klang verzweifelt. »Er hat Lydia. Er ist mir entwischt.«
»Er hat was?« Keuchend vor Anstrengung, blieb Ed Schaeffer stehen. Er war in Richtung Fluss gerannt, als er den Schrei gehört hatte.
»Lydia Johansson. Sie hat er jetzt auch.«
»Scheiße«, grummelte der schwergewichtige Deputy, der normalerweise ebenso selten fluchte, wie er die Schusswaffe zog. »Warum macht er das?«
»Er spinnt«, sagte Jesse. »Deswegen. Er is über den Fluss und in deine Richtung unterwegs.«
»Okay.« Ed dachte einen Moment lang nach. »Er kommt vermutlich hierher zurück, um das Zeug aus dem Unterstand zu holen. Ich versteck mich drin und schnapp ihn mir, wenn er reinkommt. Hat er eine Knarre?«
»Konnte ich nicht sehen.«
Ed seufzte. »Okay, na schön... Komm rüber, so schnell du kannst. Sag auch Jim Bescheid.«
»Schon passiert.«
Ed ließ die Sendetaste los und blickte durch das Unterholz in Richtung Fluss. Nirgendwo eine Spur von dem Jungen und seinem neuen Opfer. Keuchend rannte Ed zurück zum Unterstand und trat gegen die Tür. Krachend flog sie nach innen auf, und Ed stürmte hinein und kauerte sich vor die Schießscharte.
Er war so aufgeregt und angespannt, so damit beschäftigt, wie er sich den Jungen schnappen wollte, wenn er herkam, dass er zuerst gar nicht auf die zwei, drei kleinen, gelbschwarzen Tupfen achtete, die vor seinem Gesicht hin und her schossen. Oder auf das Kribbeln, das am Nacken einsetzte und sich am Rückgrat entlang nach unten ausbreitete.
Doch dann schlug das Kribbeln in grellen, glühenden Schmerz um, auf den Schultern, entlang der Arme und darunter. »O Gott«, schrie er, sprang hoch und starrte entsetzt auf die schwärmenden Insekten - wild gewordene Hornissen -, die über ihn herfielen. Panisch versuchte er sie abzustreifen, aber damit reizte er die Tiere nur noch mehr. Sie stachen ihn in die Unterarme, in die Hände, in die Fingerspitzen. Er schrie gellend. Es war der schlimmste Schmerz, den er je erlebt hatte - schlimmer als ein Beinbruch, schlimmer als die Verbrennungen, die er sich seinerzeit zugezogen hatte, als er die schmiedeeiserne Pfanne vom Herd genommen hatte, ohne zu bemerken, dass Jane die Kochplatte angelassen hatte.
Dann wurde es dunkel in dem Unterstand, als eine Wolke Hornissen aus dem großen grauen Nest in der Ecke schwärmte, das durch die auffliegende Tür zerquetscht worden war. Zu Hunderten fielen sie über ihn her. Sie hängten sich in seine Haare, ließen sich auf seinen Armen nieder, in seinen Ohren, krabbelten unter sein Hemd und in die Hosenbeine, als ob sie wüssten, dass es sinnlos war, durch die Kleidung zu stechen, und die bloße Haut suchten. Er stürmte zur Tür, riss das kurzärmlige Uniformhemd herunter und sah voller Entsetzen, dass sich Massen von glänzenden Leibern an seine Brust, seinen Bauch klammerten. Er versuchte gar nicht mehr, sie abzustreifen, sondern rannte einfach los, in den Wald hinein.
»Jesse, Jesse, Jesse!«, schrie er, bis ihm klar wurde, dass er nur ein Flüstern hervorbrachte, dass seine Kehle wegen der Stiche an seinem Hals wie zugeschnürt war.
Lauf, sagte er sich. Lauf zum Fluss.
Und er rannte los. Er rannte so schnell, wie er in seinem ganzen Leben noch nicht gerannt war, brach mit weit ausholenden Schritten durch den Wald. Weiter... lauf weiter, befahl er sich. Bleib nicht stehen. Häng die Mistviecher ab. Denk an deine Frau, denk an die Zwillinge. Weiter, weiter, weiter... Jetzt umschwärmten ihn deutlich weniger Insekten, aber immer noch hingen dreißig oder vierzig von den Biestern an ihm, und er sah, wie sie die gelbschwarzen Hinterleiber krümmten, um ihn erneut zu stechen