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Macht Religion krank? - Die Frage nach den 'ekklesiogenen Neurosen'

Ulrike Margarethe Salome Röhl

 

Verlag Tectum-Wissenschaftsverlag, 2015

ISBN 9783828862319 , 164 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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15,99 EUR


 

VORWORT

Eine der wohl provokantesten Prognosen der Moderne lautet: Religion wird im Laufe der Menschheitsgeschichte verschwinden – da sie auf ein „primitives“ Stadium verweise –, denn Religion sei das Werk von nicht aufgeklärten Menschen, das Werk von Menschen, die noch der Natur ausgeliefert seien. Doch diese Prognose hat sich – zumindest bis heute – nicht bewahrheitet; Religion erweist sich als widerstandsfähiger. Obgleich die beiden großen christlichen Volkskirchen1, vor allem in den letzten Jahren, vermehrt mit Kirchenaustritten2 zu kämpfen haben, praktiziert auch am Anfang des dritten Jahrtausends die Mehrheit der Menschen Religiosität.3

„Religion ist eine psychische Krankheit“ – dieser provozierende Ausspruch ist eines von vielen Schlagwörtern bzw. Impulsen4 gewesen, durch die ich mich als römisch-katholische Seelsorgerin in einer Psychiatrie herausgefordert sehe, mich näher mit der Fragestellung zu beschäftigen, wie die Beziehung zwischen Frömmigkeit und seelischer Krankheit bzw. zwischen Religiosität und psychischer Erkrankung zu deuten und zu beurteilen ist. Denn seit Langem stellen sich die Theologie, die Psychologie5 – insbesondere die Religionspsychologie6 – sowie die Psychotherapie7 die Frage, ob Religion bzw. Religiosität8 auf die Seite der Gesundheit des Menschen zu rechnen ist oder eher zu den menschlichen Erkrankungen gezählt werden sollte, von denen der Mensch befallen werden kann – und offenkundig auch verbreitet befallen wird. Seit einigen Jahren wird von daher die Diskussion darüber, ob Religion bzw. Religiosität für den Menschen hilfreich oder doch eher schädlich sei, besonders intensiv in der Öffentlichkeit der Theologie und der Psychologie geführt. Wird Religion bzw. Religiosität hierbei auf die Seite der Gesundheit gestellt, gesteht man der Religion bzw. Religiosität einen heilenden, lebensstabilisierenden oder sogar präventiven Charakter zu. Wird Religion bzw. Religiosität hingegen zu den Erkrankungen gezählt, so wird die Aufmerksamkeit auf ihren einschränkenden und beengenden Zugriff auf den Menschen gelenkt, der seine Natur mit Abhängigkeiten und Unfreiheiten belegt, unter denen seine Gesundheit früher oder später Schaden nimmt. Ihre Verbreitung könnte dann auf einen ebenso leicht übertragbaren wie schwer zu bekämpfenden Erreger hinweisen, der aufgrund seiner allgemeinen Verharmlosung nur selten ernsthaft in Angriff genommen wird. Ganz gleich wie hier auch entschieden werden mag, in jedem Fall hat die Religion bzw. Religiosität mit dem Gesundheitszustand des Menschen zu tun – ob positiv oder negativ, das sei an dieser Stelle noch dahingestellt.

Es ist seit Langem bekannt, dass ehemalige Sektenmitglieder oft noch jahrelang nach ihrem Austritt aus ihrer Gemeinschaft unter religiös bedingten Neurosen leiden.9 Denn sie haben Religion und Religiosität nicht selten als psychische Manipulation, emotionalen Zwang und als nicht-daseinsaffirmative Effizienz erfahren. Nach dem Ausstieg leiden die ehemaligen Mitglieder vielmals unter Verlustängsten, Depressionen10 und intellektuell-kognitiven Problemen aufgrund der Einschränkungen des selbständigen Denkens und der Kritikfähigkeit während ihrer Mitgliedschaft in der Sekte. Aber auch in den beiden großen Volkskirchen sowie in evangelikalen wie auch freikirchlichen Kreisen spielen religiös bedingte Neurosen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Laut einer Untersuchung der Universität Parma11 leiden zum Beispiel besonders häufig Katholiken unter Zwangsneurosen. Diesen Befund bestätigt ebenfalls eine Studie der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg12 aus dem Jahr 1999. Nach dieser Studie handelt es sich bei der unterfränkischen Stadt Würzburg13 um eine „Hochburg der Selbstmörder“14. Die Forscher gehen davon aus, dass „das konservative, stark römisch-katholisch geprägte Würzburger Milieu“ sozialen Absteigern das Leben besonders schwer, manchmal sogar unmöglich mache. Zudem hat eine Studie aus dem Jahr 1998 in Berlin ergeben, dass von 22.000 Ratsuchenden bei der Ärztlichen Beratung für Suizidgefährdete 7.000 als Neurotiker einzuordnen gewesen sind. Die Hälfte dieser 7.000 Personen hat an sogenannten „ekklesiogenen Neurosen“15 gelitten. Der Jesuitenpater Rupert Lay16 (* 1929) bestätigt diesen Befund aus seiner Perspektive: „Die Hälfte der Patienten, die zu mir in die Therapie kommen, sind krank geworden durch Erfahrungen, die sie in ihrer Kindheit und Jugend mit der Kirche gemacht haben.“17 Insbesondere die kirchliche Lehre von einer angeblich „Ewigen Verdammnis“ versetze viele Menschen in Angst und vermittele ihnen ein schreckliches Gottesbild, das mit dem Gott der Liebe, den Jesus von Nazareth lehrt,18 nichts gemein habe.19

Psychische Krankheiten, so kann man immer mehr psychologischen, aber auch religionspsychologischen Beiträgen entnehmen, werden durch den dominanten und einengenden Einfluss des Glaubens und der Kirche verursacht. Immer mehr Christen werden seelisch krank und müssen sich deshalb in psychiatrische Behandlung begeben. Hier wird der Eindruck erweckt, dass Menschen allein wegen ihres Glaubens oder aufgrund der kirchlichen bzw. gemeindlichen Zugehörigkeit oder einer „krank machenden“ Verkündigung christlicher Lehren schwere psychische Erkrankungen entwickeln würden. In diesem Zusammenhang ist dann auch immer wieder von „Gottesvergiftung“20, von „ekklesiogener Neurose“21, vom „toxischen Glauben“22 und von krank machender Erziehung23 die Rede. Doch ist dies wirklich so? Kann und darf man wirklich von Religion bzw. Religiosität als Krankheit sprechen? Oder anders formuliert: Welche Rolle spielt der Glaube bzw. die Religiosität der Menschen, wenn sie psychisch erkranken? Ist der Glaube, die Religion bzw. Religiosität ein Indikator für das Entstehen und Fortschreiten von psychisch bedingten Krankheiten? Oder ist Religion bzw. Religiosität eher ein Stabilisator, der den Genesungsprozess des Menschen unterstützt? Mancher wird diese Fragen sicherlich als blasphemisch empfinden und würde sie selbstverständlich entrüstet zurückweisen. Andere werden vielleicht einfach nur den Kopf schütteln, wenn sie an all die positiven Veränderungen denken, die durch den Glauben an Jesus Christus in ihr Leben gekommen sind. Redet doch auch die Bibel vom Heil durch den Messias Jesus, der heilend seinen Weg geht und das große Heil verspricht (u. a. Mk 1,21-28; Lk 5,17-26; Joh 4,47-53). Und wiederum andere können sicherlich diese Frage bejahen und sehen sich in ihrer Überzeugung, dass Religion bzw. Religiosität einen negativen Einfluss auf den Gesundheitszustand des Menschen ausübt, bestätigt.

Die Reaktion, die mein Vorhaben bei meiner Familie, Freunden, Arbeitskollegen und diversen anderen Gesprächspartnern ausgelöst hat, hat mich darin bestätigt, wie virulent und aktuell diese Fragestellung heute ist, denn in unserer aufgeklärten Zeit leiden immer mehr Menschen unter einer krank machenden Glaubenspraxis. Dabei ist die Frage nach den pathogenen Effekten von Religion bzw. Religiosität keine abstrakte Fragestellung, die wissenschaftlich-theoretisch abgehandelt werden kann, vielmehr betrifft sie ganz konkret und essentiell das Leben eines jeden Einzelnen von uns. Denn jeder Mensch – respektive jeder Gläubige – kommt nicht umhin, sich zu fragen, welche Rolle Glaube und Religion in seinem Leben spielen. Welche Funktion übernimmt Religion bzw. Religiosität in dem Leben eines Einzelnen von uns?

1Siehe hierzu genauer: Huber, W.; Schröer, H., Volkskirche. I. Systematisch-theologisch. II Praktisch-theologisch, in: TRE 35, 249-262.

2So verzeichnete zum Beispiel die römisch-katholische Kirche im Jahr 2013 178.805 Kirchenaustritte (vgl. http://www.kirchenaustritt.de/statistik).

3Vgl. Oser, F.; Bucher, A., Religiosität, Religionen und Glaubens- und Wertegemeinschaften, 940.

4„Schlagwörter [und Impulse; U.R.] entstehen nicht durch sorgfältiges Nachdenken und Analysieren, sondern durch innere Betroffenheit“ (Pfeifer, S., Wenn der Glaube zum Konflikt wird, 9).

5Siehe hierzu genauer: Holzkampf, K., Grundlegung der Psychologie, Frankfurt 22003.

6Siehe hierzu genauer: Grom, B., Religionspsychologie, München 32007; Maaz, H.-J., Hilfe! Psychotherapie. Wie sie funktioniert und was sie leistet, München 2014.

7Siehe hierzu genauer: Beese, F., Was ist Psychotherapie?, Göttingen 2004.

8Sowohl Psychiater als auch Psychotherapeuten beschäftigen sich nicht mit Religion, sondern ausschließlich mit Religiosität. Religiosität (bzw. Spiritualität) ist hier als eine deskriptive psychologische Realität zu verstehen (siehe hierzu genauer Kapitel 6).

9Siehe hierzu genauer: Roderigo, B., Der Ausstieg aus einer Sekte – Strategien zur Problembewältigung: Beratung und Therapie, in: Report Psychologie 19 (4/1994).

10Siehe hierzu genauer: Wolfersdorf, M.; Heindl, A., Chronische Depression – Grundlagen, Erfahrungen und Empfehlungen, Lengerich 2003.

11Die Universität Parma ist eine staatliche Universität in Parma mit mehr als 30.000 Studenten.

12Die Julius-Maximilians-Universität Würzburg wurde im Jahre 1582 von Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn gegründet. Auf ihn geht auch der erste Teil des Namens zurück. Der zweite Teil kommt vom bayrischen Kurfürst und späteren König Maximilian I. Joseph (siehe hierzu genauer: Süß, P. A., Kleine Geschichte der...