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Die Strudlhofstiege - oder Melzer und die Tiefe der Jahre

Heimito Doderer

 

Verlag Verlag C.H.Beck, 2016

ISBN 9783406655562 , 907 Seiten

3. Auflage

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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18,99 EUR

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Dann tat er Ungewohntes. Er stellte die Servierplatte mit dem fertigen Mokka neben das Bärenfell auf den Boden, stopfte einen Tschibuk und streckte sich der Länge nach auf dem Fell aus.

Der Tschibuk ist die stärkste Art, in welcher man Tabak genießen kann, im Gegensatze zur Nargileh oder türkischen Wasserpfeife, welche als die hygienischeste gelten darf, weil sie dem Tabaksrauch, der hier durchs Wasser gehen muß, wesentlich Gift entzieht. Der Tschibuk hingegen mit seinem breiten und flachen türkischen Thonkopf hat eine sehr große Brandfläche und ist mit dem Munde des Rauchers durch ein starkes etwa halbmeterlanges ganz gerades Weichselrohr verbunden, welches oben mit Bernstein abschließt, jedoch gänzlich ohne Spitze, sodaß man es nicht in den Mund stecken, sondern nur außen an die Lippen legen kann. Der Tschibuk muß trocken geraucht werden. Verwenden lassen sich dazu ausschließlich die besten Sorten Zigarettentabak, solche etwa, wie sie von der österreichischen Regie seinerzeit unter den Bezeichnungen ‚Sultan flor‘ oder ‚Pursitschan‘ geboten wurden. Daß Melzer hievon die frischesten Packungen erhalten konnte, versteht sich von selbst, denn er saß ja gewissermaßen an der Quelle.

Gebraucht man den Tschibuk selten und in der beschriebenen Weise, immer in Verbindung mit richtig bereitetem türkischem Kaffee, dann bietet sich in ihm ein fein-narkotisches Mittel zur Beruhigung und Sammlung, die dann allmählich in jenen Zustand übergehen können, in welchem der Türke seinen ‚Kèf‘ hält: das ist kein vollständiger und animalischer Schlaf, sondern ein schwebendes Dahindämmern ohne jede Dumpfheit und sogar sehr geeignet, die schöpferischen Kräfte im Menschen zu entbinden, genauer: das Bewußte und das Unbewußte vorsichtig aneinander heranzuführen, bis zwischen beiden der Funke springt.

In dieser Weise hält der gebildete Orientale seine Nachmittagsruhe während der heißesten Zeit, während der Stunde, da ‚der große Pan schläft‘, wie die Alten sagten. Auch Melzer versuchte es heute einmal wieder, er nahm seine Zuflucht zum ‚Kèf‘. Aber er gelangte nicht ganz zu diesem. Ein unaufhörlicher Nachhall fiel hinein, von draußen her sozusagen, noch immer von der sonnigen Porzellangasse her: eine obstinate Belanglosigkeit war’s, die sich ständig in Melzers Vorstellungen drängte. „Scheinst mir nicht eben in rosiger Stimmung zu sein …“, hatte der Rittmeister gesagt. Dies erinnerte Melzer jetzt an irgend etwas, sehr lebhaft, sehr tief. Aber ein anderes stand dazwischen und störte: es war ein Geruch, der aus einem ganz fremden Zusammenhange zu kommen schien; Melzer schnupperte vor sich hin und nun spürte er den feinen hellen Schnitt, welchen das dem Bärenfell von vielen sommerlichen Einmottungen her anhaftende Naphtalin durch den Duft des Tabaks und des Kaffees zog. Der Major setzte sich aufrecht, füllte das Mokkaschälchen, sog das starke Aroma ein und nippte ein wenig. Von der Gasse unten kam Klingeln und Jaulen eines sehr schnell vorbeifahrenden Straßenbahnzuges, der jetzt über den Gipfel vom Berg des eigenen Lärms brauste. Die Sonne schnitt eine dreieckige Fläche aus dem höchsten Stockwerk des Hauses gegenüber und lag gleißend auf dem weißen Bewurf. Melzer war zunächst nicht fähig zu begreifen, in welchem Zusammenhange dies alles mit dem Café Pucher – wo er längst nicht mehr hinkam – stehen sollte: aber er dachte eben an das Café Pucher.

Und endlich begriff er, daß der Ritter von Lindner ihm vor dreizehn Jahren in jenem Café ungefähr das gleiche gesagt oder eigentlich ihn das gleiche gefragt hatte, wie der Rittmeister vor einer halben Stunde unten vor dem Haustor im Auto, nur eben sozusagen in einer anderen Sprache.

Aber das war nicht alles. Das war nur der harmlose äußerste Rand von dem, was Melzern bedrückte, der doch das Denken nicht gelernt hatte, nicht einmal als Major.

Jedoch, hier genügte schon das Fühlen, bei diesem kleinen und kurzen Kontakt-Schluß zwischen Vergangenheit und Gegenwart: denn sie erwiesen sich dabei als identisch. Beide Stimmen, ob nun die des Herrn von Lindner oder die des Rittmeisters, sie riefen in irgendeine Gefangenschaft hinein, worin er, Melzer, sich befunden hatte und sich also noch immer befand, in eine Unselbständigkeit, in ein Weitergegeben-Werden von Umstand zu Umstand, vom Militär zur Tabak-Regie … in eine Dumpfheit, bei Zauner in Ischl oder gleichgültig sonstwo: statt auf die Villa zu Stangelers hinausfahren zu können zum Beispiel. „Asta hat den Marchetti übrigens genau so wenig geheiratet wie mich, und jener fängt schon an fett zu werden wie ein Neujahrsschweindel.“ Und was den Krieg betrifft, so begann Melzer seine Selbständigkeit und Verantwortlichkeit als Kompaniekommandant jetzt gleichsam eingerahmt zu sehen von der allgemeinen Unselbständigkeit seines Lebens überhaupt, worin er niemals irgendwohin gegangen, sondern immer nur irgendwohin gekommen war. Auch auf die Treskavica. Er war mitgenommen worden, genau wie heute nachmittags im Automobil. Das alles erschreckte den Major gar sehr. Und so mußte er denn jene Augenblicke leiden, die niemand erspart bleiben, der eigentlich gelebt hat: die tiefe Angst nämlich, nicht eigentlich gelebt zu haben. Man könnte sagen, daß damit immerhin ein bedeutender und neuer Schritt ins Leben getan sei.

Um zur Wahrheit über die Beziehung Melzers zu Eulenfeld vorzudringen, muß man doch, so scheint’s jetzt, beide Erscheinungen irgendwie formulieren (was bei der relativen Unentschiedenheit und Verwaschenheit solcher Menschen immer unsicher ist) und dann versuchen, sie einander gegenüberzustellen. Jedoch nicht eigentlich die Charaktere und irgendwelche psychologische Einzelheiten: sondern die Mechanik der Geister – soweit da vom letzteren die Rede sein kann – müßte ausgedeutet werden, also die physiognomische Grund-Anlage, welche sich dann im Materiale eines Charakters darstellt. Man könnte sagen, daß Melzer in dieser Hinsicht aus einem schnelleren und einem langsameren Grundstoff bestand, daher zunächst aus dem schnelleren sein Leben bestreiten mußte, also gewissermaßen inkomplett; Eulenfeld hingegen aus dem schnelleren Stoffe allein, daher er denn auch allen Menschen von Anfang an als recht komplett und fertig entgegentrat. Es wäre indessen möglich sich vorzustellen, daß Melzer die langsamere Substanz mit der Zeit auch bis an den Außenwall seines Lebens vorgebracht hätte, um dort seine beiden Grundstoffe zu vereinigen und so den kleinen Spalt, welcher seine Existenz durchzog, zu schließen und zu heilen. Das hat er offenbar immer gewünscht: das Geschlossen- und Heil-Sein nämlich, aber mißverständlicher Weise nahm er dabei den Rittmeister als Wunsch- und Vorbild.

Dieser Irrtum wurde auch durch ein Präjudiz seines Lebens begünstigt: Melzer übertrug ständig, und freilich ohne es zu wissen, seine eigenen Empfindungen und Einschätzungen aus dem Erinnerungsbilde, welches er sehr lebhaft von dem Major Laska besaß, auf Eulenfeld. Das waren gewissermaßen die Voraussetzungen seines Umganges mit dem Rittmeister, und er konnte danach gar keine anderen als förderliche und stärkende Wirkungen von dieser Seite erwarten. (Daß er überhaupt anlehnungsbedürftig war, hat der Leser längst gemerkt – auch Mary Allern gegenüber ist das sicher in irgendeiner Weise hervorgekommen – ich bringe diese allgemeine Gemütslage Melzers hier nur beiläufig in Erinnerung.) Der Major und spätere Oberst Laska aber, seligen Angedenkens, hatte, um’s kurz zu sagen, beide Melzerischen Grundstoffe sehr wohl in sich getragen, jedoch gründlich coaguliert und ganz spaltlos verschmolzen.

Im weiteren Verlaufe des Verkehrs mit dem Rittmeister mußt’ es freilich für Melzer allmählich fühlbar werden, daß da irgendwas ‚au fond du fond‘ nicht stimmte, in den Voraussetzungen also. Aber unser einstmaliger Leutnant und Bärenjäger war kein analytischer Kopf. Er fühlte sich nur bedrückt. Jedoch gerade dies, gerade diese häufigere Bedrücktheit, kam in dem Laska’schen Erinnerungsbilde durchaus nicht vor, und so sonderte sich dieses allmählich wieder von Eulenfeld ab, mit welchem es für Melzer eine Zeit lang schon hatte da oder dort verschmelzen wollen … Es kam noch einiges als weniger wesentlich hinzu; Eulenfeld war ein starker Trinker, und Melzer, einmal zu Eulenfeld hin tendierend, oder sagen wir lieber, von dessen Lebens-Stil fasziniert (das Wort ist nicht zu stark), tat sich beinahe Gewalt an, um es irgendwie auch zu werden, da eben anders bei dem Rittmeister gar nicht mitzuhalten war; und außerdem gefiel ihm die Art von Eulenfelds Trinken, die Cognac-Flasche in einer weißen Papier-Serviette rückwärts im Wagen, die Gewohnheit des Rittmeisters, beim Trinken die Zigarette aus einem langen Papier-Spitz zu rauchen; und vielleicht erhoffte der Kindskopf Melzer vom Trinken eine Art...