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Kontextoptimierung - Evidenzbasierte Intervention bei grammatischen Störungen in Therapie und Unterricht

Hans-Joachim Motsch, Margit Berg

 

Verlag ERNST REINHARDT VERLAG, 2017

ISBN 9783497604081 , 284 Seiten

4. Auflage

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz DRM

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48,99 EUR


 

1 Evidenzbasierung

1.1 Graduelle Evidenz

Wenn Ihr Kind eine grammatische Störung hätte, wäre es dann nicht beruhigend, wenn Sie wüssten, dass sein Therapeut eine als erfolgreich bekannte Therapiemethode bei ihm anwenden würde? Wenn Sie dieser Therapeut wären, hätten Sie nicht auch selbst ein gutes Gefühl, eine effektive Therapiemethode zu kennen und anwenden zu können?

Suchodoletz (2002) forderte, dass gerade bei den hartnäckig persistierenden spezifischen Störungen der Sprachentwicklung die Effektivität der Therapiemethoden in methodisch anspruchsvollen und damit aussagekräftigen Studien nachzuweisen ist. Die Forderung ist nachvollziehbar: Es sollen nur noch Therapiemethoden zum Einsatz kommen, deren Wirksamkeit empirisch nachgewiesen ist. Von den wirksamen sollen die effektivsten Methoden eingesetzt werden, wobei hier auch Kriterien wie Dauer (Effizienz), Nebenwirkungen und Kosten einer Therapie Eingang finden. Im Sinne der Qualitätssicherung sollen zukünftig Entscheidungsprozesse vor einer sprachtherapeutischen Intervention evidenzbasiert sein (Ullrich / Romonath 2008).

Das Konzept der Evidenzbasierung wurde von Medizinern in den 1980er Jahren entwickelt. Dahinter steht der quantitativ-empirische Forschungsansatz und die Erwartung von großen untersuchten Versuchspersonengruppen im drei- bis vierstelligen Bereich. Überwunden werden soll die Praxis des „Erlaubt ist, was gefällt“.

„Eine Beweisführung, die sich auf Intuition, Generalisierung von Einzelbeobachtungen, plausible Ableitungen aus theoretischen Modellen oder auf Meinungen von allgemein anerkannten Autoritäten beruft, wird verworfen und abgelöst durch gezielte wissenschaftliche Untersuchungen mit experimenteller Anordnung“ (Suchodoletz 2002, 19).

Benötigt werden nicht nur experimentelle Studien, welche die Effektivität einer Methode kontrastierend zu einer Kontrollgruppe unbehandelter Kinder untersuchen, um Entwicklungseffekte auszuschließen, sondern methodenvergleichende Studien parallelisierter Gruppen, in denen die Über- oder Unterlegenheit einer Methode belegt werden könnte.

Abb. 1: Evidenzhierarchie des Oxford Centre für Evidence-based Medicine (2009, vereinfacht)

Dieser Standard wurde bezogen auf die Therapie grammatischer Störungen national wie international nicht erreicht. Allerdings ist auch die Medizin, 25 Jahre nach dieser Formulierung des Standards zur Qualitätssicherung, bei weitem nicht im Bereich aller Anwendungen evidenzbasiert (Baumgartner 2008, 313). Damit wird deutlich, dass die Frage nach Evidenzbasierung keine absolute ja – nein Frage ist. Vor diesem Hintergrund wird es zwingend, graduelle Stufen der Evidenzbasierung zu akzeptieren, die auf einem Kontinuum beginnend von schwacher Evidenz zur stärksten Evidenz führen. Die stärkste Evidenz wird in der Evidenzhierarchie des Oxford Centers mit dem Level I erreicht (siehe Abb. 1).

Eine randomisierte und kontrollierte Interventionsstudie gilt in der Forschung also als nachgewiesen bestes Studiendesign, um bei einer eindeutigen Fragestellung eine eindeutige Aussage zu erhalten und die Kausalität zu belegen. Deshalb wird auch vom „Goldstandard“ der Studienplanung gesprochen. Randomisierung bedeutet, dass die Zuordnung zu einer Behandlungsgruppe nach dem Zufallsprinzip erfolgt. Kontrolliert heißt eine Studie, wenn die Ergebnisse in der Experimentalgruppe mit denen einer Kontrollgruppe ohne Intervention oder mit denen einer Kontrollgruppe mit einer Kontrollintervention verglichen werden.

Bei aller Wünschbarkeit empirischer Effektivitätskontrolle darf dennoch hinterfragt werden, ob der Mehrwert quantitativer Mittelwertvergleiche so unbestritten sein muss. Sprachtherapie ist schwer vergleichbar mit einer Medikamenteneinnahme. Eine Mittelwertüberlegenheit einer Methode A auf hohem Signifikanzniveau kann verwischen, dass sich in der Gruppe der effektiveren Methodik Kinder befinden, die von dieser Methode A nicht oder nur wenig profitiert haben. Diese Kinder hätten aber unter Umständen von der konkurrierenden, unterlegenen Methode B mehr profitiert.

Die Therapeutenvariable darf zudem nicht vergessen werden. Zwei Therapeuten, die sich auf die gleiche Methode berufen, setzen diese nicht gleich um. Der Passung zwischen Methode-Therapeut-Kind kommt in der Sprachtherapie jenseits mittelwertgestützter Effektivität Bedeutung zu.

Die in der Sprachtherapie häufig anzutreffenden kasuistischen Darstellungen befinden sich auf Level IV der Evidenzbasierung. Aber gerade am Beispiel der One-Case-Studies kann gezeigt werden, dass selbst diese unterschiedliches Evidenz-Niveau haben können, das durch die Beantwortung folgender Fragen deutlich wird:

Gab es eine valide Prä-Post-Test-Messung des Fähigkeitenstandes?

Wurde die Stabilität der Effekte gemessen (Follow-up-Test)?

Wurde das Interventionskind mit einem Kontrollgruppen-Kind parallelisiert, um Zufalls- und Zeiteffekte auszuschließen?

Bewegt sich die statistische Analyse auf dem Niveau deskriptiver Statistik, oder wurde ein durchaus auch bei Einzelfallstudien möglicher Signifikanztest durchgeführt? (z. B. der exakte Fisher-Test)

Aus diesem Grund wurden die fünf Stufen der Evidenzhierarchie vom Oxford Centre immer differenzierter nochmals graduell unterteilt z. B. in Ia, Ib und Ic.

1.2 Stufen zum „Gold-Standard“ – Interventionsergebnisse

Trotz der berechtigten Bedenken an einer kritiklosen Übernahme des Standards evidenzbasierter Forschungsstrategien für die Sprachtherapieforschung und Sprachbehindertenpädagogik (Baumgartner 2008) wäre es geradezu fatal, den Anspruch des empirischen Nachweises der Effektivität und Effizienz sprachtherapeutischer Ansätze aufzugeben. Erforderlich ist eine Anpassung des evidenzbasierten Ansatzes an die Spezifität sprachtherapeutischer Realität in den unterschiedlichen Handlungsfeldern. Diese Anpassung kann als ein Durchlaufen unterschiedlicher Phasen dargestellt werden (Taylor 2007; Thomas / Pring 2004) oder als ein Hinaufsteigen auf den Stufen zum Gold-Standard.

Seit den ersten One-case-studies im Jahre 1999 haben wir versucht, im Forschungsprojekt FGS (Förderung grammatischer Fähigkeiten spracherwerbsgestörter Kinder) diese Stufen zum Gold-Standard hochzusteigen. Level I haben wir u. a. bereits dadurch erreicht, dass wir internationale Übereinstimmungen unter Experten feststellen konnten. Therapiemethoden, die in vergleichbaren Zeiträumen an unterschiedlichen Forschungsstätten auf der Basis empirischer Studien entwickelt wurden, haben höhere Evidenz als Methoden ohne internationale Übereinstimmung. So gibt es viele Übereinstimmungen zwischen den Prinzipien der Kontextoptimierung (Motsch 2002) mit den von Marc E. Fey und Mitarbeitern (University of Kansas City) 2003 publizierten zehn Prinzipien der grammatischen Therapie, die sich auf mehrere empirische Studien stützen.

In der ersten Phase haben wir mit 25 Einzelfallstudien, in denen das Therapieverfahren exakt auf die definierten individuellen Störungsbilder zugeschnitten werden konnte, Level II erreicht (Motsch 2006). Mit mehreren multiplen Fallstudien mit kleinen Gruppen unter detaillierter Kontrolle der Fallcharakteristika sind wir auf Level III gestiegen (Motsch / Seiffert 2008; Seiffert 2008; Motsch 2007; Motsch / Ziegler 2004; Fostiropoulos 2002). Im Rahmen des mehrjährigen Projektes führten wir drei große vergleichende Interventionsstudien durch, in denen jeweils unterschiedliche Therapieziele (grammatische Regeln) in unterschiedlichen Altersgruppen und in unterschiedlichen Settings untersucht wurden. In allen genannten Studien haben die Kinder in kurzer Zeit hoch signifikante Therapiefortschritte gemacht, die denen der Kontrollgruppe ohne spezifische Intervention oder mit anderer Therapiemethode überlegen waren. Während mit den beiden ersten Studien bereits Level II erreicht wurde, entspricht die dritte Studie den Standards einer RCT (Randomized controlled trial), einer randomisierten und kontrollierten Studie, bei denen die Nachtestungen der Kinder verblendet vorgenommen wurden, d. h., dass die Untersucher nicht wussten, zu welcher Untersuchungsgruppe das untersuchte Kind gehörte. Da alle Ergebnisse mittlerweile national und international publiziert wurden, beschränken wir uns hier auf eine Kurzcharakterisierung der Studien und ihrer Ergebnisse.

1. Interventionsstudie 2001 – 2002 (Berg 2007; Motsch / Berg 2003)

Therapieziel: Verbendstellungsregel im Nebensatz

Versuchspersonen und Setting: 61 Dritt- und Viertklässler aus sechs Sprachheilschulen in Baden-Württemberg mit Therapiebedarf im Bereich komplexer Syntax wurden in drei Gruppen unterteilt.

Experimentalgruppe 1 (n=14) erhielt kontextoptimierte Kleingruppentherapie, drei bis vier Therapieeinheiten (40 Minuten) pro Woche.

Experimentalgruppe 2 (n=27) erhielt unterrichtsintegrierte Therapiephasen (15 Minuten) viermal pro Woche.

Die Kontrollgruppe (n=20) erhielt sprachheilpädagogische Förderung ohne kontextoptimierte Therapie.

Während der Großteil der Kinder der Experimentalgruppen das Therapieziel nach der 12-wöchigen Intervention erreicht hatte, konnten bei der Kontrollgruppe keine Veränderungen nachgewiesen werden. Damit hat sich die Kontextoptimierung als effektive Methode zur Förderung der komplexen Syntax herausgestellt.

Entwicklung der Produktionsleistung im Gruppenvergleich

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