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Vom glücklichen Leben - Herausgegeben und übersetzt von Lenelotte Möller

Lucius Annaeus Seneca

 

Verlag marixverlag, 2012

ISBN 9783843800501 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

Vom glücklichen Leben


Einführung


Schon zu Lebzeiten Senecas wurde ihm vorgeworfen, wie sehr die von ihm vertretene Philosophie mit ihrer bescheidenen und genügsamen Lebensweise und sein eigener Lebenswandel im Reichtum an Neros Hof im Gegensatz zueinander stünden.

Am nachhaltigsten betonte dies Senecas Widersacher Publius Suillius Rufus. Dieser war mit Ovids Stieftochter verheiratet und stand wohl mit dem Dichter bis zu dessen Tod in Briefkontakt. Jedenfalls bat ihn Ovid im Jahre 15 nach Augustus’ Tod, sich für seine Rückkehrerlaubnis einzusetzen (Epistulae ex Ponto 4,8). Ovid starb allerdings im Exil 17 n. Chr. Im Jahre 24 wurde Suillius überführt, in einem Prozess bestochen worden zu sein, weshalb er von Kaiser Tiberius auf eine Insel verbannt wurde (Tacitus Annales 4,31). Von dort durch den neuen Kaiser Caligula zurückgerufen, wurde er Konsul und in den 50er-Jahren Prokonsul in der Provinz Asia. Unter Kaiser Claudius betätigte sich Suillius vor allem als Denunziant, dem als Erste Iulia, Drusus’ Tochter, und Poppaea Sabina (Tac. Ann. 13,43) aus dem Kaiserhaus zum Opfer fielen. Dann sorgte er für die Bestrafung der Verschwörer, die sich gegen die Entmachtung des Senates durch Kaiser Claudius wehrten, wobei Suillius auch vor ehemaligen Konsuln nicht Halt machte. Auch römische Ritter ließ er anklagen. Als Ankläger eines Ritters namens Samius ließ er sich allerdings mit 400 000 Sesterzen dazu bewegen, die Anklageschrift so zu verfassen, dass keine Verurteilung stattfinden würde. Die Bestechung kam ans Tageslicht und Samius beging Selbstmord. Von Kaiser Claudius in Schutz genommen, entging Suillius einer Bestrafung und musste nur die Bestechungssumme zurückzahlen.

Nach Neros Amtsantritt beleidigte Suillius dessen Erzieher Seneca auf schwerste Weise: Sein Exil unter Claudius sei rechtmäßig gewesen, da er das Kaiserhaus durch Ehebruch – Suillius spricht sogar im Plural – entehrt habe. (Tac. Ann. 13,42) Nach diesen und anderen Anwürfen suchte man in Neros Umgebung nach einem Grund, Suillius anzuklagen und mundtot zu machen. Da der Vorwurf der Ausbeutung der Provinz Asia die Erreichung dieses Ziels nicht versprach, wurden ihm die Denunziationen unter Claudius zur Last gelegt, die von vielen Zeugen bestätigt wurden. Anzeige gegen Geld war seit 204 v. Chr. durch die Lex Cincia verboten, das auf Senecas Drängen hin im Jahre 54 n. Chr. verschärft worden war. In seiner Verteidigungsrede berief sich Suillius nicht nur auf Befehlsnotstand, indem er erklärte, auf Anweisung Messalinas, Claudius’ dritter Frau, gehandelt zu haben, sondern versuchte auch erfolgreich, seinen Widersacher Seneca erneut zu diskreditieren, indem er dessen Reichtum – sein Vermögen soll 300 000 000 Sesterzen wert gewesen sein – und die Widersprüchlichkeit zwischen Philosophie und Lebenswirklichkeit beklagte. Der inzwischen ungefähr achtzigjährige Suillius wurde 58 verurteilt und auf die Balearen verbannt (Tac. Ann. 13,43).

Tatsächlich war Seneca durch Schenkungen Neros reich geworden. Reich waren aber einerseits auch andere Minister Neros geworden, andererseits wurde Seneca als einflussreiche Persönlichkeit nach den Gepflogenheiten der Zeit auch von anderen Personen als dem Kaiser testamentarisch bedacht. Ferner stimmte es, dass er Geld gegen Zinsen auslieh (Tac. Ann. 14,53,5), ob diese Zinsen, wie ihm vorgeworfen wurde, überhöht waren, ist ungewiss. Seneca wird sonst eher als großzügig geschildert. Er besaß gewiss mehrere Villen in und um Rom und in den Albaner Bergen, ebenso wohl Land in Ägypten, und er verlieh nachweislich Geld in Britannien, durch dessen Rückforderung er sogar den Aufstand Königin Buodiccas gegen Rom ausgelöst haben soll.

Senecas Schrift De vita beata ist oft als Rechtfertigung gegen die Vorwürfe Suillius’ verstanden worden, zumal sie insbesondere auf die Vereinbarkeit zwischen Reichtum und stoischer Philosophie verweist. Der Weise dürfe sehr wohl Reichtümer besitzen, solange er nicht von ihnen besessen werde. Inhaltlich widerlegt er damit Suillius’ Aussagen über seine Lebensweise jedoch nicht. Auch verlässt den Philosophen im Laufe des Textes streckenweise die stoische Gelassenheit, und statt des Bruders spricht er die Ankläger direkt an: Hör auf, den Philosophen das Geld zu verbieten! (Kap. 23) Daher wohl waren die Vorwürfe auch langfristig wirkungsvoll: Erstens bezeichneten sie den Anfang von Senecas Machtverlust am Kaiserhof, zweitens wurden sie von späteren Historikern wiederholt (z.B. von Cassius Dio 61,10) und schließlich in der Neuzeit wieder aufgegriffen, so etwa in Petrarcas Brief Ad familiares 24,5, in welchem der Humanist allerdings besonders die Hinwendung zu Nero tadelt.

Vom glücklichen Leben


Übersetzung

(1) Leben, mein lieber Bruder Gallio, wollen alle glücklich, doch wenn es darum geht zu durchschauen, was es ist, das ein glückliches Leben bewirkt, tappen sie im Dunkeln; es ist so schwierig, ein glückliches Leben zu erlangen, dass sich jeder umso mehr davon entfernt, je mehr er ihm nachjagt, wenn er einmal gestrauchelt ist. Sobald der Weg in die Gegenrichtung führt, wird die Schnelligkeit zum Grund eines immer größeren Abstandes. Man muss sich daher zuerst klarmachen, was es ist, das man erstrebt; dann muss man sich umsehen, wie wir am schnellsten dorthin eilen können, indem wir auf dem Weg – wenn er denn der richtige ist – begreifen, wie viel man jeden Tag schaffen kann, und wie viel näher wir an dem sind, zu dem uns unsere natürliche Begierde treibt. 2 Solange wir freilich allenthalben umherschweifen, ohne einem Leiter zu folgen, sondern dem Getöse der Menge und dem wirren Geschrei der durcheinander Rufenden, wird unser kurzes Leben zwischen Irrtümern zerrieben, auch wenn wir Tag und Nacht um die gute Gesinnung bemüht sind. Es muss daher erstens entschieden werden, wohin wir streben, zweitens, wodurch, und zwar nicht ohne jemand Erfahrenen, der das erforscht hat, worin wir vorankommen wollen, da ja hier nicht dieselben Bedingungen wie in sonstigen Reisen vorliegen: Bei jenen verhindern ein entdeckter Grenzstein oder Einwohner, die man fragt, dass man in die Irre geht, hier aber täuscht selbst die ausgetretenste und belebteste Straße am meisten. 3 Nichts muss man also dringender sicherstellen als eben gerade nicht nach der Gewohnheit des Viehs der Herde der Voranschreitenden nachzutraben, wobei man nämlich nicht dahin fortmarschiert, wohin man eigentlich gehen soll, sondern dahin, wohin die Allgemeinheit nun einmal geht. Und keine Tatsache verwickelt uns in größere Übel als die, dass wir auf die öffentliche Meinung hin orientiert sind, indem wir das für das Beste halten, was mit der größten Zustimmung aufgenommen wird. Und weil wir viele Vorbilder haben, leben wir nicht nach der Vernunft, sondern auf die Ähnlichkeit zu ihnen hin. Daher die so große Menge von Menschen, in der die einen über die anderen stürzen. 4 Was sich in einer großen Menschenmasse ereignet, wenn das Volk sich selbst bedrückt (niemand fällt, ohne einen anderen mit sich hinabzuziehen, die Ersten sind der Untergang der Nachfolgenden), kannst du in jedem Leben geschehen sehen: Niemand irrt für sich allein, sondern er ist Grund und Urheber fremden Irrtums. Es schadet nämlich, sich den Voranschreitenden an die Füße zu heften. Und während jeder Einzelne lieber glauben will statt zu entscheiden, wird niemals über das Leben entschieden, sondern immer geglaubt, und der von Hand zu Hand weitergegebene Irrtum quält uns und richtet uns zugrunde. Durch fremde Vorbilder scheitern wir. Wir werden geheilt werden, wenn wir uns nur von der Masse trennen. 5 Nun aber steht gegen die Vernunft als Verteidiger seines eigenen Übels das Volk. In Volksversammlungen, in denen Prätoren gewählt worden sind, wundern sich dieselben Menschen, die sie gewählt haben, über ihre eigene Entscheidung, wenn die wechselhafte Gunst sich geändert hat: Dasselbe, was wir gutheißen, verwerfen wir. Es ist das Ende jeder Urteilskraft, wenn das Urteil sich nach der Mehrheit richtet.

(2) Wenn über das glückliche Leben gehandelt wird, darfst du mir nicht wie bei den Volksabstimmungen antworten: »Diese Seite scheint mir die Mehrheit zu sein.« Dann ist sie nämlich schlechter. Mit den menschlichen Angelegenheiten wird nicht so gut umgegangen, dass die besseren Dinge jeweils den meisten gefallen. Die Zustimmung der Masse ist vielmehr der Beweis für die Schlechtigkeit einer Sache. 2 Wir wollen daher fragen, was am besten zu tun ist, nicht am nützlichsten, und was uns in den Besitz ewigen Glücklichseins versetzt, nicht was dem Volk, dem schlechtesten Deuter der Wahrheit, günstig erscheint. Volk aber nenne ich auch die im feinen Umhang und die Gekrönten. Denn nicht die Farbe der Kleider, in die jemand gehüllt ist, schaue ich an; den Augen der Menschen traue ich nicht, ich habe ein besseres und sichereres Auge, mit dem ich Wahres von Falschem unterscheide: Die Seele findet das Gute in der Seele. Wenn sie jemals frei ist, aufzuatmen und sich zurückzuziehen – o wie sehr wird die sich selbst Quälende die Wahrheit bekennen und sagen: 3 »Was ich auch immer bislang getan habe – ich wollte, es wäre nicht getan worden; wenn ich überlege, was ich bisher gesagt habe, beneide ich die Stummen; was immer ich gewünscht habe, halte ich für eine Verfluchung von Seiten meiner Feinde; was immer ich gefürchtet habe – gute Götter! Um wie viel unbedeutender war es als das, was ich anstrebte! Mit vielen habe ich Feindschaft gepflegt und brachte ihnen dann wieder Wohlwollen entgegen (soweit es unter Feinden überhaupt Wohlwollen geben kann): Mir selbst bin ich noch nicht Freund geworden. Alle...