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Friedrich Dürrenmatt - Eine Biographie

Friedrich Dürrenmatt - Eine Biographie

Ulrich Weber

 

Verlag Diogenes, 2020

ISBN 9783257611458 , 752 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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24,99 EUR


 

Kindheit und Studium: Der Weg zur Schriftstellerei (19211946)


Kindheit im Emmental


Die Pfarrersfamilie


Es muss ihnen fast ein wenig wie die biblische Geschichte von Abraham und Sara vorgekommen sein: Pfarrer Reinhold Dürrenmatt und seine Frau Hulda waren bereits seit zwölf Jahren verheiratet – er vierzig, sie fünfunddreißig –, als ihnen ihr erstes Kind geschenkt wurde, ein Sohn. Friedrich Reinhold Dürrenmatt, in seinen ersten fünfundzwanzig Lebensjahren für alle nur der Fritz Dürrenmatt (der er auch später für seine Freunde blieb), wurde am 5. Januar 1921 in Stalden im Emmental geboren. Nicht dass seine Eltern an der Allmacht Gottes gezweifelt hätten, doch werden sie die Kinderlosigkeit bereits als ihr Los akzeptiert haben. 1917 hatten sie eine Pflegetochter aufgenommen, Elisabeth Gori, geboren am 12. Februar 1916. Zum Zeitpunkt der Geburt von Fritz war Lisbeth, wie sie genannt wurde, also fünf Jahre alt. Schon im nächsten Jahr war Hulda Dürrenmatt wieder schwanger, doch die Tochter Marianna lebte nur drei Tage. Am 19. Mai 1924 wurde Verena, genannt Vroni, geboren. Geordnete finanzielle und familiäre Verhältnisse, eine Welt des unerschütterlichen Glaubens und der Bildung, eine überschaubare Dorfwelt in lieblicher Landschaft, in einer friedlichen, vom Ersten wie später vom Zweiten Weltkrieg verschonten Schweiz – gute Startbedingungen für den Jungen.

Fritz war für seine Eltern Augapfel, Sorgenkind und Ärgernis zugleich. Vor allem für die Mutter stand er im Zentrum der Aufmerksamkeit, und er blieb es ein Leben lang gewohnt, ein Umfeld zu haben, das sich nach ihm richtete: So nahm er später mit großer Selbstverständlichkeit die Dienste von Freunden in Anspruch und erwartete auch, dass sich Frau und Kinder seinen Bedürfnissen anpassten. Unter diesen Bedingungen war er durchaus hilfsbereit und großzügig. Ein zufriedener Egozentriker wuchs da heran. Vroni stand stets im Schatten des Bruders, schon lange, bevor dieser berühmt war. Die Tochter schlug mehr dem zurückhaltenden und bedächtigen Vater als der resoluten Mutter nach. Dass er im Zentrum stand, widerspiegelt sich auch in Dürrenmatts autobiographischen und fiktionalen Texten: Nie spielen Geschwister eine wesentliche Rolle, immer nur die Eltern-Kind-Beziehung. Das ist aber seine Perspektive der literarischen Lebenserinnerung und heißt nicht, dass die Geschwister einander wenig bedeuteten. Verena Dürrenmatt, eine ruhige, weltoffene Frau, die ihre letzten Lebensjahre bis zu ihrem Tod am 26. Mai 2018 in einer komfortablen Alterswohnung im neu erbauten Berner Viertel Westside verbrachte, erinnerte sich 2015 in einem Gespräch, dass damals zwar beide Kinder ihre eigenen Freunde hatten, dass sie aber auch oft bloß zu zweit spielten, zumal die Eltern vielbeschäftigt waren – die Mutter als aktive Pfarrfrau mit vielen sozialen Verpflichtungen, der Vater täglich in seiner weitläufigen Pfarrgemeinde unterwegs und zu Hause zurückgezogen in seiner »Studierstube« am Schreibtisch. So genossen die Kinder im und ums Pfarrhaus gleich neben der Kirche viele Freiheiten. Ein Spielort war, wie sich Dürrenmatt in den Stoffen erinnert, der Friedhof: »Wenn ein Grab ausgehoben wurde, richtete ich mich darin häuslich ein, bis der herannahende Leichenzug, vom Glockengeläute angekündigt, mich vertrieb, einmal freilich etwas spät: Mein Vater sprach schon das Leichengebet, als ich aus dem Grab kletterte.« (WA 28, S. 20f.)

Verena liebte und bewunderte ihren Bruder und nahm ihre Rolle als Statistin im Theater des Familienlebens selbstverständlich hin. Sie erinnert sich an seine rebellischen Züge: »Meine Eltern waren ziemlich großzügig, wir mussten nur an den Festtagen wie Ostern und Weihnacht in die Predigt. Aber dann ist man in einem ›Zügli‹ vom Pfarrhaus in die Kirche eingezogen, voran der Vater im Talar, dann – mit Abstand – die Mutter, die mich bei der Hand nahm. Dann sollte Fritz kommen und der Besuch: ein ganzer Umzug. Fritz war schlau, er ging auf die Toilette, wenn die Glocken läuteten und man sich aufstellen musste, und man wartete auf ihn, ging schließlich ohne ihn.«6

Elisabeth Gori, die Pflegeschwester von Fritz und Vroni, war das uneheliche Kind der italienischen Gastarbeiterin Marie Antonietta Gori aus Longiano, die auf einem Bauernhof in Egg bei Zürich vom Sohn des Bauern geschwängert und von den Behörden gezwungen worden war, ihr Kind wegzugeben. Als sie vom gleichen Bauernsohn ein zweites Kind bekam, wurde ihr auch dieses genommen und sie des Landes verwiesen. Ein düsteres Kapitel schweizerischer Sozialgeschichte spielt da in die Familiengeschichte hinein. Lisbeth war ein sogenanntes »Verdingkind«, wie sie damals jährlich zu Zehntausenden den – oft alleinstehenden – Müttern weggenommen und durch die Behörden an Pflegefamilien vermittelt wurden.7

Lisbeth war kein einfaches Kind. Die Pfarrfrau hatte ihre liebe Mühe mit dem lebhaften, impulsiven Mädchen. Die Geburt von Fritz und Vroni bedeutete einen Bruch in dessen Biographie. Lisbeth erlebte, dass sie nicht den gleichen Stellenwert hatte wie die ›richtigen‹ Dürrenmatt-Kinder. Schon die unerwartete Geburt von Fritz veränderte alles, und als das zweite Kind, Marianna, kurz nach der Geburt starb und Hulda bald wieder ein Kind erwartete, wurde Elisabeth im Alter von etwa neun Jahren von den überforderten Pflegeeltern in ein Kinderheim gegeben. Zwar holten sie das Mädchen, von schlechtem Gewissen geplagt, nach etwas mehr als einem Jahr wieder zurück, doch die Erfahrung blieb haften.

Die Abstammung4


Von den Großeltern hat Fritz noch die Großmutter mütterlicherseits erlebt – sie wohnte zuletzt bei der Pfarrersfamilie und starb, als Fritz drei Jahre alt war. Als sie im Haus aufgebahrt lag, machte er sich Sorgen, ob denn die Seele der großen, schweren Frau durch den Kamin in den Himmel entweichen könne. Lisette Zimmermann, geborene Schluep, war die Witwe Friedrich Zimmermanns. Dürrenmatts Großvater mütterlicherseits war einst Gemeindepräsident von Wattenwil, einem Bauerndorf im Gürbetal im Berner Voralpengebiet gewesen, »angesehener Repräsentant eines pietistischen und unerbittlichen Konservatismus«.8 Ihn kannte Fritz nur aus den lebhaften Erzählungen seiner Mutter (er starb 1914 im Alter von siebzig Jahren). »Er war ein Bauer, der seine Bauernhäuser in Pacht gegeben hatte, sich noch ein Armeepferd hielt und nichts als Gemeindepräsident war. Er war der Gemeindepräsident. Er regierte sein Dorf allgewaltig wie ein Fürst.« (WA 28, S. 179f.)9

Die Familie des Vaters Reinhold stammte, wie das ganze, schon im 15. Jahrhundert nachgewiesene Geschlecht Dürrenmatt, aus Guggisberg im voralpinen Schwarzenburgerland, aus einer der ärmsten Gemeinden im Kanton Bern. Fritz’ Großvater Ulrich Dürrenmatt war – als jüngstes von neun Kindern einer Bergbauernfamilie – weggezogen, hatte als Primar- und später Sekundarlehrer an verschiedenen Orten im Kanton unterrichtet und 1882 in Herzogenbuchsee im Berner Mittelland eine Zeitung mit eigener Druckerei, die ›Berner Volkszeitung‹, erworben, die er bis zu seinem Tod herausgab und redigierte. Um die Jahrhundertwende war er eine im ganzen Kanton Bern bekannte, angesehene und gefürchtete Figur: »Ein seltsamer, einsamer und eigensinniger Rebell: klein, gebückt, bärtig, bebrillt, mit scharfen Augen, ein Berner, […] der den Freisinn, den Sozialismus und die Juden haßte; auf den kein politisches Klischee paßte und der für eine christliche, föderalistische, bäuerliche Schweiz kämpfte zu einer Zeit, als sie sich anschickte, ein moderner Industriestaat zu werden, ein politisches Unikum, dessen Titelgedichte berühmt waren und von einer Schärfe, die man heute selten wagt.« (WA 28, S. 176f.) Nicht ohne Stolz weist Dürrenmatt darauf hin, dass sein Großvater wegen eines dieser polemischen Gedichte für ein paar Tage ins Gefängnis musste. Von 1902 bis...