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Sind Mädchen besser? - Der Wandel geschlechtsspezifischen Bildungserfolgs in Deutschland

Marcel Helbig

 

Verlag Campus Verlag, 2012

ISBN 9783593418612 , 340 Seiten

Format PDF, OL

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41,99 EUR

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Das katholische Arbeitermädchen vom Lande (Peisert 1967) symbolisierte in den 1960er Jahren alle benachteiligten Gruppen des deutschen Schulsystems. Ob Region und Religion den Bildungserfolg gegenwärtig immer noch beeinflussen, ist in der Forschung nicht abschließend beantwortet worden. Soziale Herkunft ist jedoch nach wie vor ein Hauptkriterium für Bildungserfolg. Heute rufen einige Autoren aus Wissenschaft und Journalismus die 'Krise der Jungen' aus (Pollack 2006; Dammasch 2007). Manche sprechen gar von einem 'War against Boys' (Sommers 2000). Die neue Bundesregierung hat 2009 den Jungen einen eigenen Absatz im Koalitionsvertrag gewidmet. Im Bundesfamilienministerium wurde in der Legislaturperiode 2009 bis 2013 außerdem ein eigenes Referat gegründet, um eine eigenständige Jungen- und Männerpolitik zu entwickeln. Was ist passiert?

In der Soziologie wird diese Entwicklung als Stratifikationsmuster bezeichnet, das sich umgekehrt hat (Buchmann und DiPrete 2006; Quenzel und Hurrelmann 2010): Die ehemals im Schulsystem benachteiligten Mädchen sind heute erfolgreicher als Jungen. Mädchen werden heute seltener von der Einschulung zurückgestellt, müssen seltener eine Klasse wiederholen, besuchen seltener die Hauptschule und häufiger das Gymnasium als Jungen. Sie verlassen die Schule seltener ohne Schulabschluss und seltener mit Hauptschulabschluss - dafür häufiger mit allgemeiner Hochschulreife.

Besonders deutlich zeigt sich der Wandel geschlechtsspezifischen Bildungserfolgs an der Entwicklung der Abiturquoten an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland zwischen 1950 und 2009 (Abbildung 1). In den 1950er Jahren war das Abitur noch ein seltenes Bildungszertifikat. Bis 1960 erlangten nur knapp 5 Prozent eines alterstypischen Jahrgangs das Abitur. Zudem war dieser Abschluss vor allem den Jungen vorbehalten. Im Vergleich zu ihren Altersgenossinnen hatten sie bis Mitte der 1950er Jahre eine über 1,8-fach höhere Chance, das Abitur zu erreichen.

Erst im Zuge der Bildungsexpansion ab Mitte der 1960er Jahre kam es zu einer nennenswerten Chancenverbesserung für Mädchen. Um 1976 hatten sie die gleiche Chance auf ein Abitur an den allgemeinbildenden Schulen. Zwischen 1980 und 1989 waren die Chancen der Mädchen auf das Abitur dann minimal höher als jene der Jungen. Seit 1990 gewinnen die Mädchen im Vergleich zu den Jungen sukzessive bei der Abiturquote hinzu. Dabei blieb die Abiturquote der Jungen seit Mitte der 1980er Jahre relativ konstant; die der Mädchen hat sich hingegen deutlich besser entwickelt. Mädchen haben heute im Vergleich zu Jungen eine 1,4-fach höhere Chance auf das Abitur an einer allgemeinbildenden Schule. Das Chancenverhältnis der Geschlechter hat sich damit beinahe umgekehrt.

Wie kam es zu dieser Entwicklung? Warum wiesen Mädchen in den 1950er und 1960er Jahren deutlich niedrigere Abiturquoten auf als Jungen? Warum haben sie seit Mitte der 1960er Jahre gegenüber den Jungen aufgeholt? Warum sind sie bei der Erlangung des Abiturs seit Anfang der 1990er Jahre deutlich erfolgreicher als ihre männlichen Altersgenossen? Das sind die Haupt-Forschungsfragen dieser Arbeit.

Es gibt einige Gründe dafür, dass dieser Fragenkomplex bisher weitgehend unbeantwortet geblieben ist. Zum einen könnte die Phase der relativen Chancengleichheit der Geschlechter in allgemeinbildenden Schulen zwischen 1976 und 1989 ein Grund dafür sein, dass sich die sozialwissenschaftliche Forschung in Deutschland mit dem Thema Geschlechterungleichheit im Bildungssystem wenig beschäftigt hat.

Erst mit dem schlechten Abschneiden der Jungen bei der ersten PISA-Studie 2000 (Programme for International Student Assessment) (Deutsches PISA-Konsortium 2001) sind Geschlechterunterschiede im Bildungssystem wieder auf die bildungspolitische Agenda gesetzt worden.

Des Weiteren wurde dieses Thema im akademischen und öffentlichen Diskurs ausgeklammert, weil es nicht üblich war und ist, über die Benachteiligung von Jungen und Männern in der Gesellschaft zu sprechen (Arnot et al. 1999; Stamm 2008; Diefenbach 2010). Denn Frauen verdienen nach wie vor weniger Geld (Flitner 1992; Cornelißen et al. 2005; Leuze und Strauß 2009), sind kaum in Führungspositionen der Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zu finden (Dressel 2005; Holst und Wiemer 2010) und sind deutlich stärker in Hausarbeit und Kinderbetreuung eingebunden (Dressel 2005; Heisig 2011).

Ferner wurden Geschlechterungleichheiten in der Bildung über Jahrzehnte allein als Benachteiligung von Mädchen und Frauen verstanden (Hannover 2004; Stamm 2008). Hier wurden und werden vor allem die geringeren Kompetenzen der Mädchen in Mathematik und Naturwissenschaften thematisiert (Diefenbach 2010). Aus diesen Gründen wird nach Diefenbach (2010) die Umkehr des geschlechtsspezifischen Bildungserfolgs in der Geschlechterforschung auch heute noch negiert oder verschwiegen.

Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern kam es in der Forschung und im öffentlichen Bewusstsein erst Ende der 1990er bzw. Anfang der 2000er Jahre zu einer 'Jungenwende' (siehe dazu: Stamm 2008). Vorrangig im angelsächsischen Raum wird der mangelnde Bildungserfolg der Jungen seitdem auch als eines der größten Bildungsprobleme bezeichnet (Lingard et al. 2002; Frank et al. 2003).

Mädchen haben im Vergleich zu Jungen in fast allen Ländern der Welt mehr Bildungserfolg. Dies zeigt sich am Anteil der Frauen an allen Studierenden: Er ist zwischen 1970 und 2005 in fast allen Ländern der Welt substantiell angestiegen (Abbildung 2). 1970 lag er für die dargestellten Länder noch bei 31 Prozent, stieg aber bis 2005 auf 49 Prozent an. Dabei ist der Frauenanteil unter den Studierenden 2005 in jenen Ländern besonders hoch, die auch schon 1970 einen höheren Frauenanteil aufwiesen. Der gestiegene Bildungserfolg der Frauen scheint also ein generelles Phänomen der Modernisierung zu sein (Geißler 2005). In allen Ländern steigen die Bildungschancen relativ zu jenen der Männer an. Nur die Dynamik des Anstiegs und das Ausgangsniveau der Geschlechterungleichheit unterscheiden sich zwischen den Ländern (Hille 1990; McDaniel 2010). Deutschland befindet sich sowohl beim Frauenanteil an den Studierenden 1970 als auch 2005 etwa auf dem jeweiligen Mittelwert des Länderspektrums.