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Am Rande der Schatten - Roman

Brent Weeks

 

Verlag Blanvalet, 2010

ISBN 9783641038335 , 704 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR

  • Jenseits der Schatten - Roman
    Eragon - Die Weisheit des Feuers
    Die Pfeiler des Glaubens - Roman
    Äon - Roman
    Das Höllenschiff - Historischer Kriminalroman
    Der Weg in die Schatten - Roman
    Das Gold der Maori - Roman
    Eine Billion Dollar - Roman
  • Elektronik ohne Ballast - Grundlagen der Elektronik leicht verständlich
    MacTiger - Ein Highlander auf Samtpfoten - Roman

     

     

     

     

     

     

     

 

 

?Wir haben einen Auftrag für dich«, sagte Momma K. Wie immer saß sie da wie eine Königin, den Rücken durchgedrückt, das prächtige Kleid von perfektem Sitz, das Haar tadellos frisiert, wenn auch grau an den Wurzeln. An diesem Morgen hatte sie dunkle Ringe unter den Augen. Kylar vermutete, dass keiner der überlebenden Anführer der Sa'kage seit der khali- dorischen Invasion viel geschlafen hatte.
»Euch auch einen guten Morgen«, erwiderte Kylar, während er sich in dem Ohrensessel im Arbeitszimmer niederließ.
Momma K wandte sich ihm nicht zu, sondern blickte aus dem Fenster. Der Regen der vergangenen Nacht hatte den größten Teil der Brände in der Stadt gelöscht, aber viele schwelten noch immer und tauchten die Stadt mit ihrer Glut in eine blutrote Morgendämmerung. Das Wasser des Plith, der den reichen, östlichen Teil der Stadt Cenaria vom Labyrinth trennte, war rot wie Blut. Kylar war sich nicht sicher, ob das nur an der von Rauch verhüllten Sonne lag. In der Woche seit dem Staatsstreich und der Invasion hatten die Khalidori Tausende von Menschen massakriert.
Momma K sagte: »Die Sache hat einen Haken. Das Opfer weiß Bescheid.«
»Woher?« Die Sa'kage waren im Allgemeinen nicht so schlampig.
»Wir haben es ihm gesagt.«
Kylar rieb sich die Schläfen. Die Sa'kage würden ein Opfer nur deshalb einweihen, damit sie nicht kompromittiert wurden, sollte der Anschlag scheitern. Das bedeutete, dass es sich bei dem Opfer nur um einen Mann handeln konnte: Cenarias Eroberer, Khalidors Gottkönig, Garoth Ursuul.
»Ich bin nur gekommen, um mein Geld zu holen«, erklärte Kylar. »Alle sicheren Häuser Durzos - all meine sicheren Häuser sind niedergebrannt. Ich brauche nur genug, um die Torwachen zu bestechen.« Er hatte ihr seit seiner Kindheit einen Teil seiner Löhne gegeben, damit sie das Geld investierte. Sie sollte reichlich haben für einige Bestechungen.
Momma K blätterte schweigend die Blätter Reispapier auf ihrem Schreibtisch durch und reichte Kylar eins davon. Zuerst machten ihn die Zahlen sprachlos. Er war an dem illegalen Import von Gras und einem halben Dutzend anderer süchtig machender Pflanzen beteiligt, hielt Anteile an einer Brauerei und mehreren Geschäften, besaß ein Rennpferd und Importwaren wie Seide und Edelsteine, die gesetzlich erlaubt waren, wenn man von der Tatsache absah, dass die Sa'kage zwanzig Prozent für Bestechungen bezahlten, statt fünfzig Prozent Zollgebühren. Die schiere Menge an Informationen auf der Seite war sinnverwirrend. Bei der Hälfte der Einträge wusste er nicht, was sie bedeuteten.
»Ich besitze ein Haus?«, fragte Kylar.
»Du hast eins besessen«, antwortete Momma K. »In dieser Spalte ist vermerkt, wenn etwas bei den Bränden oder
Plünderungen verloren gegangen ist.« Das Zeichen stand bei allen Eintragungen, nur nicht bei jenen Expeditionen, die unterwegs waren, um Seide beziehungsweise Gras ins Land zu bringen. Beinahe alles, was er besessen hatte, war verloren gegangen. »Es wird Monate dauern, bis eine der beiden Expeditionen zurückkehrt, falls sie überhaupt zurückkehren. Wenn der Gottkönig weiter zivile Schiffe beschlagnahmt, werden sie gewiss nicht zurückkommen. Natürlich, wenn er tot wäre
Er konnte erkennen, worauf das hinauslief. »Hier steht, dass mein Anteil immer noch zehn- bis fünfzehntausend wert ist. Ich werde ihn Euch für tausend verkaufen. Das ist alles, was ich brauche.«
Sie beachtete ihn nicht. »Sie brauchen einen dritten Blutjungen, um sicherzustellen, dass es funktioniert. Fünfzigtausend Gunder für einen Mord, Kylar. Mit so viel Geld könntest du Elene und Uly überallhin bringen. Du hättest der Welt einen Dienst erwiesen, und du würdest nie wieder arbeiten müssen. Es ist nur ein letzter Auftrag.«
Er schwankte bloß einen Moment lang. »Es gibt immer einen letzten Auftrag. Ich bin fertig.«
»Es liegt an Elene, nicht wahr?«, fragte Momma K.
»Momma K, denkt Ihr, ein Mensch kann sich ändern?«
Sie sah ihn mit einer tiefen Traurigkeit an. »Nein. Und am Ende wird er jeden hassen, der das von ihm verlangt.«
Kylar stand auf und trat durch die Tür. Im Flur begegnete er Jarl. Jarl grinste, wie er es getan hatte, als sie auf den Straßen aufgewachsen waren und er nichts Gutes im Schilde geführt hatte. Jarl trug ein Gewand, das wohl der neuesten Mode entsprach, eine lange Jacke mit übertrieben breiten Schultern, gepaart mit einer schmal geschnittenen Hose, die in hohen Stiefeln steckte. Das Ganze wirkte vage khalidorisch. Das
Haar hatte er sich zu winzigen, kunstvollen Zöpfen geflochten, die mit goldenen Perlen bedeckt waren; die Perlen brachten seine schwarze Haut besonders gut zur Geltung.
»Ich habe den perfekten Auftrag für dich«, sagte Jarl mit gesenkter Stimme, aber ohne zu bereuen, dass er gelauscht hatte.
»Kein Mord?«, hakte Kylar nach.
»Nicht direkt.«
»Euer Heiligkeit, die Feiglinge stehen bereit, um ihre Schuld zu begleichen«, erklärte Vürdmeister Neph Dada, dessen Stimme sich über die Menge erhob. Er war ein alter Mann mit deutlich hervortretenden Adern und zahlreichen Leberflecken, gebeugt und nach Tod stinkend, den er mit Magie in Schach hielt. Sein Atem rasselte von der Anstrengung, nachdem er das Podest im großen Innenhof von Burg Cenaria erklommen hatte. Zwölf mit Knoten versehene Schnüre hingen über den Schultern seiner schwarzen Robe, Sinnbild für die zwölf Shu'ras, die er gemeistert hatte. Neph kniete mit einiger Mühe nieder und hielt dem Gottkönig eine Handvoll Stroh hin.
Gottkönig Garoth Ursuul stand auf dem Podest und musterte seine Truppen. Vorn und in der Mitte standen fast zweihundert Hochländer aus Graavar, hochgewachsene, blauäugige Wilde mit mächtigem Oberkörper, die ihr schwarzes Haar kurz und ihre Schnurrbärte lang trugen. Zu beiden Seiten standen die anderen Eliteeinheiten der Hochlandstämme, die die Burg erobert hatten. Hinter ihnen wartete der Rest der regulären Armee, die seit der Befreiung in Cenaria einmarschiert war.
Zu beiden Seiten der Burg erhob sich Nebel über dem Plith, glitt unter die rostigen Zähne des eisernen Fallgitters und ließ die Menge frieren. Die Graavar waren in fünfzehn Gruppen von jeweils dreizehn Männern aufgeteilt worden, und sie allein hatten weder Waffen noch Rüstung noch Roben. Sie standen in ihren Hosen da, die bleichen Gesichter starr, aber statt an dem kühlen Herbstmorgen zu zittern, schwitzten sie.
Es gab niemals Unruhe, wenn der Gottkönig seine Truppen begutachtete, aber heute schmerzte das Schweigen, obwohl Tausende gekommen waren, um zuzuschauen. Garoth hatte so viele Soldaten wie möglich versammelt und den cenari- schen Dienstboten, den Adligen und den kleinen Leuten ebenfalls gestattet zuzusehen. Meister in ihren schwarz-roten Halbumhängen standen Schulter an Schulter mit in Roben gewandeten Vürdmeistern, Soldaten, Kleinbauern, Fassbindern, Adligen, Feldarbeitern, Mägden, Seeleuten und cenari- schen Spionen.
Der Gottkönig trug einen weiten, weißen Umhang mit Hermelinbesatz, um seine breiten Schultern gewaltig wirken zu lassen. Darunter befand sich eine ärmellose, weiße Robe über weiten, weißen Hosen. All das Weiß ließ seine bleiche khalidorische Haut geisterhaft erscheinen und lenkte die Aufmerksamkeit auf die Vir, die auf seiner Haut spielten. Schwarze Ranken der Macht stiegen an die Oberfläche seiner Arme. Große Knoten hoben und senkten sich, Knoten, umrahmt von Dornen, die sich nicht nur hin und her bewegten, sondern auch in Wellen von oben und unten aufstiegen und sich aus seiner Haut drückten. Die Vir beschränkten sich nicht auf seine Arme. Sie erhoben sich, um sein Gesicht einzurahmen. Sie erhoben sich zu seinem kahlen Schädel und durchdrangen die Haut, sodass sie eine dornige, bebende, schwarze Krone bildeten. Blut rann an den Seiten seines Gesichts hinab.
Für viele Cenarier war es das erste Mal, dass sie den Gottkönig sahen. Ihre Münder standen vor Staunen weit offen. Sie schauderten, als sein Blick über sie hinwegglitt. Es war genauso, wie er es beabsichtigt hatte.
Schließlich wählte Garoth einen der Strohhalme von Neph Dada und brach ihn entzwei. Eine Hälfte warf er weg und griff dann nach zwölf unversehrten Halmen. »So soll Khali sprechen«, sagte er, seine Stimme kraftvoll vor Macht.
Er bedeutete den Graavar, auf das Podest zu steigen. Während der Befreiung hatten sie den Befehl gehabt, diesen Innenhof zu sichern, damit die cenarischen Edelleute nicht entkommen und später ermordet werden konnten. Stattdessen waren die Hochländer in die Flucht geschlagen worden, und Terah Graesin und ihre Edelleute waren geflohen. Dies war inakzeptabel, unerklärlich und untypisch für die grimmigen Graavar. Garoth verstand nicht, was Männer dazu brachte, an einem Tag zu kämpfen und am nächsten zu fliehen.
Was er jedoch verstand, war Scham. Während der vergangenen Woche hatten die Graavar Ställe ausgemistet, Nachttöpfe geleert und Böden geschrubbt. Es war ihnen nicht gestattet worden zu schlafen, stattdessen hatten sie die Nächte damit verbracht, die Rüstungen und Waffen Höhergestellter zu polieren. Heute würden sie ihre Schuld sühnen, und während des nächsten Jahres würden sie erpicht darauf sein, ihre Hel- denhaftigkeit zu beweisen. Als er sich zusammen mit Neph der ersten Gruppe näherte, zog er die Vir aus seinen Händen zurück. Wenn die Männer ihre Strohhalme zogen, durften sie es nicht für das Wirken von Magie halten oder für das Wohlwollen des Gottkönigs, das den einen verschonte und den anderen verdammte. Stattdessen war es schlichtes Schicksal, die unausweichliche Konsequenz ihrer eigenen Feigheit.
Garoth hob die Hände, und alle Khalidori beteten einstimmig: »Khali vas, Khalivos ras en me, Khali mevirtu rapt, recu virtum defite.«
Während die Worte verklangen, trat der erste Soldat vor. Er war noch keine sechzehn und auf seiner Lippe nur der Hauch eines Schnurrbarts. Er schien am Rand eines Zusammenbruchs zu stehen, während sein Blick von dem eisigen Gesicht des Gottkönigs zu den Strohhalmen flackerte. Auf seiner nackten Brust leuchtete Schweiß im heller werdenden Licht des Morgens, und seine Muskeln zuckten. Er zog einen Strohhalm. Er war lang.
Die Hälfte der Anspannung wich aus seinem Körper, aber nur die Hälfte. Der junge Mann neben ihm, der ihm so ähnlich sah, dass es sich um seinen älteren Bruder handeln musste, befeuchtete sich die Lippen und griff nach einem Strohhalm. Er war kurz.
Die fast Übelkeit erregende Erleichterung des Rests der Gruppe war mit Händen greifbar, und die vielen tausend Zuschauer, die den kurzen Strohhalm unmöglich sehen konnten, wussten aufgrund dieser Reaktion, dass er gezogen worden war. Der Mann, der den kurzen Strohhalm in der Hand hielt, sah seinen kleinen Bruder an. Der jüngere Mann schaute ihm nicht ins Gesicht. Der Verurteilte richtete einen ungläubigen Blick auf den Gottkönig und reichte ihm den kurzen Strohhalm.
Garoth trat zurück. »Khali hat gesprochen«, erklärte er. Die Menge sog beinahe gleichzeitig die Luft ein, und er nickte der Gruppe zu.
Sie schlossen sich um den jungen Mann, jeder Einzelne von ihnen - selbst sein Bruder -, und begannen auf ihn einzuschlagen.
Es wäre schneller gegangen, hätte Garoth der Gruppe gestattet, Panzerhandschuhe zu tragen oder das stumpfe Ende von Speeren oder die Flachseite von Klingen zu benutzen, aber er hielt es für besser so. Wenn das Blut zu fließen begann und aus dem Fleisch spritzte, während auf den Verurteilten eingedroschen wurde, sollte es nicht von der Kleidung der übrigen Männer abgefangen werden. Sie sollten es auf der Haut spüren. Sie sollten die Wärme des Blutes dieses Jungen spüren, während er starb. Sie sollten den Preis für Feigheit erfahren. Khalidori flohen nicht.
Die Gruppe griff mit beträchtlichem Elan an. Der Kreis schloss sich, und Schreie wurden laut. Es hatte etwas Intimes, wie nacktes Fleisch auf nacktes Fleisch drosch. Der junge Mann verschwand, und alles, was noch zu sehen war, waren Ellbogen, die sich erhoben und mit jedem Hieb verschwanden, und Füße, die zu neuen Tritten zurückgezogen wurden. Und Augenblicke später Blut. Mit dem kurzen Strohhalm war der junge Mann zu ihrer Schwäche geworden. Es war Khalis Erlass. Er war nicht länger Bruder oder Freund, er war alles, was sie falsch gemacht hatten.
Binnen zwei Minuten war der junge Mann tot.
Die Gruppe formierte sich neu, blutbespritzt und schwer atmend vor Anstrengung und Erregung. Sie betrachteten den Leichnam zu ihren Füßen nicht. Garoth musterte sie der Reihe nach, schaute jedem Einzelnen von ihnen in die Augen und ließ seinen Blick auf dem Bruder verweilen. Dann trat er vor den Leichnam und streckte eine Hand aus. Die Vir lugten aus seinem Handgelenk hervor und dehnten sich aus, krallenartig und zerklüftet, und umfassten den Kopf des Leichnams. Dann zuckten die Krallen, und der Kopf knackte, ein Geräusch, das Dutzenden von Cenariern Brechreiz verursachte.
»Euer Opfer ist akzeptiert worden. Dadurch seid ihr gereinigt«, verkündete er und salutierte ihnen.
Sie erwiderten seinen Salut voller Stolz und nahmen ihre Plätze im hinteren Teil der Formation auf dem Innenhof ein, während der Leichnam weggeschleift wurde.
Er deutete auf die nächste Gruppe. Die nächsten vierzehn Wiederholungen würden nichts Neues bringen. Obwohl jede einzelne Gruppe noch immer voller Anspannung war - selbst diejenigen, die fertig waren, würden Freunde und Verwandte in anderen Gruppen verlieren -, erlosch Garoths Interesse. »Neph, erzählt mir, was Ihr über diesen Mann erfahren habt, diesen Nachtengel, der meinen Sohn getötet hat.«
Burg Cenaria gehörte nicht unbedingt zu den Orten, zu denen es Kylar besonders hinzog. Er war als Gerber getarnt, mit einem schmutzigen, wollenen Handwerkerkittel, die Hände und Arme bis zu den Ellbogen mit Farbe befleckt, und hatte sich mit einigen Tropfen des speziellen Parfüms benetzt, das Durzo Blint, sein toter Meister, entwickelt hatte. Er stank nur eine Spur weniger, als ein echter Gerber gestunken hätte. Durzo hatte stets Tarnungen als Gerber, Schweinebauer oder Bettler und dergleichen bevorzugt - Typen eben, die zu übersehen respektable Leute ihr Bestes gaben, weil sie nicht umhinkonnten, sie zu riechen. Das Parfüm wurde nur auf die äußeren Kleidungsstücke aufgetragen, die man, sollte es notwendig werden, abstreifen konnte. Ein Teil des Gestanks würde ihm trotzdem anhaften, aber jede Tarnung hatte ihre Nachteile. Die Kunst bestand darin, die Nachteile dem Auftrag anzupassen.
Die Ostbrücke oder, wie sie eigentlich hieß, Östliche Königsbrücke, war während des Kampfes um Burg Cenaria abgebrannt, und obwohl die Meister sie größtenteils wieder instand gesetzt hatten, war sie immer noch gesperrt. Daher musste Kylar vom Westufer des Flusses aus über die Westbrücke oder Westliche Königsbrücke gehen, um zu der auf einer Insel im Plith gelegenen Burg zu gelangen. Die khalido- rischen Wachen würdigten ihn kaum eines Blickes, als er vorbeiging. Es schien, als sei die Aufmerksamkeit aller - selbst der Meister - auf ein Podest in der Mitte des Burghofs und auf eine Gruppe von Hochländern gerichtet, die barbrüstig in der Kälte standen. Kylar ignorierte die Gruppe auf dem Podest, während er nach möglichen Bedrohungen Ausschau hielt. Er war sich immer noch nicht sicher, ob Meister seine magische Begabung wahrnehmen konnten, obwohl er vermutete, dass sie es nicht konnten, solange er seine Magie nicht benutzte. Ihre Fähigkeiten schienen mehr als die der Magi an den Geruch gebunden zu sein - was der Hauptgrund dafür war, dass er als Gerber gekommen war. Wenn ein Meister ihm nahe kam, konnte Kylar nur hoffen, dass weltliche Gerüche die magischen überlagerten.
Vier Wachen standen an jeder Seite des Tores, sechs auf jedem Teilstück der diamantförmigen Burgmauer und vielleicht tausend in Formation auf dem Hof, zusätzlich zu den etwa zweihundert Graavar-Hochländern. In der mehrere tausend Menschen umfassenden Menge hatten in regelmäßigen Abständen fünfzig Meister Aufstellung genommen. In der Mitte des Ganzen befanden sich auf dem Podest eine Anzahl ceranischer Adliger, mehrere verstümmelte Leichen und Gottkönig Garoth Ursuul selbst, der mit einem Vürdmeister sprach. Es war lächerlich, aber selbst angesichts der Anzahl von Soldaten und Meistern hier war dies wahrscheinlich die beste Chance, die ein Blutjunge haben konnte, um den Mann zu töten.
Aber Kylar war nicht hier, um zu töten. Er war hier, um wegen des seltsamsten Auftrags, den er je angenommen hatte, einen Mann in Augenschein zu nehmen. Er suchte in der Menge nach dem Mann, von dem Jarl ihm erzählt hatte, und fand ihn sehr bald. Baron Kirof war ein Vasall der Gyres gewesen. Da sein Lord tot war und seine Ländereien nahe der Stadt lagen, war er einer der ersten cenarischen Edelleute gewesen, die das Knie vor Garoth Ursuul gebeugt hatten. Er war ein fetter Mann mit rotem Bart, den er im Stil der Khali- dori aus dem Tiefland kantig geschnitten hatte, großer, gebogener Nase, schwachem Kinn und dicken, buschigen Augenbrauen.
Kylar ging näher heran. Baron Kirof schwitzte und wischte sich die Hände an seiner Robe ab, während er sich nervös mit den khalidorischen Edelleuten unterhielt, mit denen er zusammen dastand. Kylar schob sich gerade um einen hochgewachsenen, stinkenden Schmied herum, als der Mann ihm plötzlich einen Ellbogen in die Magengrube rammte.
Der Schlag trieb alle Luft aus Kylars Lunge, und noch während er sich vorbeugte, erschien in seiner Hand der Ka'kari und formte einen Dolch.
»Wenn du einen besseren Blick haben willst, komm gefälligst frühzeitig, wie wir anderen es getan haben«, sagte der Schmied. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schob seine Ärmel hoch, um gewaltige Muskeln zu zeigen.
Mit einiger Mühe zwang Kylar den Ka'kari zurück in seine Haut und entschuldigte sich mit niedergeschlagenen Augen. Der Schmied lachte höhnisch und wandte sich um, um weiter den Spaß zu beobachten.
Kylar begnügte sich mit dem, was er von seinem Platz aus sehen konnte. Baron Kirof. Der Gottkönig hatte etwa die
Hälfte der Hochländereinheiten abgearbeitet, und Buchmacher der Sa'kage nahmen bereits Wetten darauf an, welcher Mann aus jeder der noch verbliebenen dreizehnköpfigen Gruppen sterben würde. Die khalidorischen Soldaten bemerkten es. Kylar fragte sich, wie viele Cenarier wegen der Herzlosigkeit der Buchmacher sterben würden, wenn die kha- lidorischen Soldaten heute Nacht durch die Stadt streiften, in Trauer um ihre Toten und voller Zorn darüber, dass die Sa'kage alles besudelten, was sie berührten.
Ich muss raus aus dieser verdammten Stadt.
Die nächste Gruppe musste bis zum zehnten Mann warten, ohne dass der kurze Strohhalm gezogen wurde. Es lohnte sich beinahe, dem Geschehen Beachtung zu schenken, da die sichtbare Verzweiflung der Männer wuchs, während jeder ihrer Nachbarn verschont blieb und ihre eigenen Chancen schlechter wurden. Der elfte Mann, um die vierzig und sehnig, zog den kurzen Strohhalm. Er kaute an den Enden seines Schnurrbarts, während er dem Gottkönig den Strohhalm zurückgab, zeigte ansonsten jedoch keine Regung.
Neph schaute zu Herzogin Jadwin und ihrem Gemahl hinüber, die auf dem Podest saßen. »Ich habe den Thronsaal untersucht, und ich bin auf etwas gestoßen, das mir noch nie zuvor untergekommen ist. Die ganze Burg riecht nach der Magie, die so viele unserer Meister getötet hat. Aber einige Stellen im Thronsaal ^ tun das einfach nicht. Es ist, als sei ein Feuer im Haus, aber wenn man einen bestimmten Raum betritt, riecht es dort nicht nach Rauch.«
Blutspritzer flogen jetzt durch die Luft, und Garoth war einigermaßen sicher, dass der Mann tot sein musste, aber die Gruppe schlug immer weiter und weiter und weiter zu.
»Das passt nicht zu dem, was wir über den silbernen Ka'kari wissen«, sagte Garoth.
»Nein, Euer Heiligkeit. Ich denke, es gibt einen siebten Ka'kari, einen geheimen Ka'kari. Ich denke, er kehrt Magie um, und ich denke, dass dieser Nachtengel ihn hat.«
Garoth dachte darüber nach, während die Ränge sich neu formierten und eine Leiche zwischen ihnen lag. Das Gesicht des Mannes war vollkommen zerstört. Es war eine beeindruckende Arbeit. Die Gruppe hatte sich entweder besonders ins Zeug gelegt, um ihre Hingabe zu beweisen, oder die Männer hatten den armen Bastard nicht gemocht. Garoth nickte erfreut. Er streckte die Virkrallen wieder aus und zerquetschte den Kopf des Toten. »Euer Opfer ist akzeptiert worden. Dadurch seid Ihr gereinigt.«
Zwei seiner Leibwachen schafften den Leichnam an den Rand des Podests. Die Leichen lagen dort in ihrem Blut aufgestapelt, sodass die Cenarier, wenn sie schon nicht das Sterben eines jeden einzelnen Mannes beobachten konnten, doch zumindest das Ergebnis der Bestrafung zu Gesicht bekamen.
Als die nächste Gruppe begann, fragte Garoth: »Ein Ka'kari, der siebenhundert Jahre lang versteckt war? Welche Meisterschaft verleiht er? Das Verborgensein? Was bedeutet das für mich?«
»Euer Heiligkeit, mit einem solchen Ka'kari könntet Ihr oder Euer Beauftragter ins Herz der Chantry spazieren und Euch jeden Schatz nehmen, den sie dort haben. Ungesehen. Es wäre möglich, dass Euer Beauftragter selbst Ezras Wald betreten und Artefakte für Euch holen könnte, die dort seit siebenhundert Jahren liegen. Dann gäbe es keinen Grund mehr für Armeen oder vorsichtiges Vorgehen. Auf einen Streich könntet Ihr ganz Midcyru an der Kehle packen.«
Mein Beauftragter. Zweifellos würde Neph sich mutig erbieten, die gefährliche Aufgabe selbst zu übernehmen. Trotzdem, der bloße Gedanke an einen solchen Ka'kari beschäftigte Garoth während des Sterbens eines weiteren Halbwüchsigen, zweier Männer im besten Alter und eines erfahrenen Veteranen, der einen der höchsten Verdienstorden trug, die der Gottkönig verlieh. Einzig dieser Mann hatte so etwas wie Verrat in den Augen.
»Geht der Sache nach«, sagte Garoth. Er fragte sich, ob Khali von diesem siebten Ka'kari wusste. Er fragte sich, ob Dorian davon wusste. Dorian, sein erster anerkannter Sohn, Dorian, der sein Erbe gewesen wäre, Dorian der Prophet, Dorian der Verräter. Dorian war hier gewesen, dessen war sich Garoth gewiss. Einzig Dorian konnte Curoch mitgebracht haben, Jorsin Alkestes' mächtiges Schwert. Irgendein Magus war für einen einzigen Augenblick mit Curoch erschienen und hatte fünfzig Meister und drei Vürdmeister ausgelöscht, bevor er verschwunden war. Neph wartete offensichtlich darauf, dass Garoth ihn deswegen befragen würde, aber Garoth hatte die Suche nach Curoch aufgegeben. Dorian war kein Narr. Er hätte Curoch nicht hergebracht, wenn er gedacht hätte, dass er ihn vielleicht verlieren würde. Wie überlistete man einen Menschen, der in die Zukunft schauen konnte?
Der Gottkönig blinzelte, während er einen weiteren Kopf zerquetschte. Wann immer er das tat, bekam er Blut auf seine schneeweiße Kleidung. Es geschah mit Absicht - war aber dennoch ärgerlich, und es war nichts Würdevolles daran, wenn einem Blut in die Augen spritzte. »Euer Opfer ist akzeptiert worden«, erklärte er den Männern. »Dadurch seid Ihr gereinigt.« Er trat an den vorderen Rand des Podests, während die Gruppe ihren Platz hinten auf dem Paradefeld einnahm.
Während der ganzen Angelegenheit hatte er sich nicht zu den Cenariern umgedreht, die hinter ihm auf dem Podest saßen. Jetzt tat er es.
Die Vir erwachten zum Leben, als er sich umwandte. Schwarze Ranken krochen sein Gesicht hinauf, glitten über seine Arme, durch seine Beine und kamen sogar aus seinen Pupillen heraus. Er ließ ihnen einen Augenblick Zeit, das Licht in sich aufzusaugen, sodass der Gottkönig ein unnatürlicher Flecken Dunkelheit im aufkommenden Morgenlicht zu sein schien. Dann machte er dem ein Ende. Er wollte, dass die Edelleute ihn sahen.
Da war nicht ein Auge, das nicht riesig gewesen wäre. Es waren nicht ausschließlich die Vir oder Garoths angeborene Würde, die sie sprachlos machten. Es waren die Leichen, die links und rechts von ihm und hinter ihm aufgestapelt waren wie Holzscheite und ihn umrahmten wie ein Gemälde. Es war die mit Blut und Hirnmasse bespritzte weiße Kleidung, die er trug. Er war ehrfurchtgebietend in seiner Macht und schrecklich in seiner Erhabenheit. Falls sie überlebte, würde er Herzogin Trudana Jadwin die Szene vielleicht malen lassen.
Der Gottkönig betrachtete die Edelleute, und die Edelleute auf dem Podest betrachteten den Gottkönig. Er fragte sich, ob einige von ihnen schon ihre eigene Zahl ermittelt hatten: dreizehn.
Er streckte seine Hand voller Strohhalme den Edelleuten entgegen. »Kommt«, forderte er sie auf. »Khali wird Euch reinigen.« Diesmal hatte er nicht die Absicht, vom Schicksal entscheiden zu lassen, wer sterben würde.
Kommandant Gher sah den Gottkönig an. »Euer Heiligkeit, da muss ein Er brach ab. Gottkönige machten keine Fehler. Alle Farbe wich aus Ghers Gesicht. Er zog einen langen Strohhalm. Es verstrichen einige Augenblicke, bevor ihm in den Sinn kam, dass er nicht allzu erleichtert wirken sollte.
Die meisten der Übrigen waren Edelleute von geringerem Stand - die Männer und Frauen, die dafür gesorgt hatten, dass die Regierung des verstorbenen Königs Aleine Gun- der IX. funktioniert hatte. Es war so leicht gewesen, sie zu stürzen. Erpressung konnte so einfach sein. Aber es brachte Garoth nichts ein, diese Tagelöhner zu töten, selbst wenn sie ihn enttäuscht hatten.
Dies führte ihn zu einer schwitzenden Trudana Jadwin. Sie war die Zwölfte in der Reihe, und ihr Gemahl war der Letzte.
Garoth hielt inne. Er ließ die beiden einander ansehen. Sie wussten, allen Zuschauern war klar, dass einer von ihnen sterben würde, und es hing alles von dem Strohhalm ab, den Trudana zog. Der Herzog schluckte krampfhaft. Garoth sagte: »Von allen Edelleuten hier seid Ihr, Herzog Jadwin, derjenige, der nie in meinen Diensten stand. Also habt Ihr mich offenkundig nicht enttäuscht. Eure Gemahlin dagegen hat es getan.«
»Was?«, fragte der Herzog und sah Trudana an.
»Wusstet Ihr nicht, dass sie Euch mit dem Prinzen betrogen hat? Sie hat ihn auf meinen Befehl hin ermordet«, erklärte Garoth.
Es hatte etwas sehr Schönes, inmitten von etwas zu stehen, das eigentlich ein zutiefst privater Augenblick hätte sein sollen. Das vor Furcht bleiche Gesicht des Herzogs wurde grau. Er war offensichtlich noch weniger scharfsinnig gewesen als die meisten gehörnten Gatten. Garoth konnte sehen, wie die Erkenntnis den armen Mann ansprang. Jeder dumpfe Verdacht, den er jemals beiseitegewischt hatte, jede schlechte Ausrede, die er je gehört hatte, stürzten auf ihn ein.
Faszinierenderweise wirkte Trudana Jadwin erschüttert. Ihre Miene war nicht so selbstgerecht, wie Garoth erwartet hatte. Er hatte gedacht, dass sie den Finger ausstrecken und ihrem Gemahl sagen würde, warum dies sein Fehler gewesen war. Stattdessen sprachen ihre Augen von reiner Schuld. Garoth konnte nur vermuten, dass der Herzog ein anständiger Gemahl gewesen war, und sie es wusste. Sie hatte ihn betrogen, weil sie es hatte tun wollen, und jetzt stürzten zwei Jahrzehnte der Lügen in sich zusammen.
»Trudana«, sagte der Gottkönig, bevor einer der beiden etwas erwidern konnte, »Ihr habt mir gute Dienste geleistet, aber Ihr hättet mir noch bessere leisten können. Also ist hier Euer Lohn und Eure Strafe.« Er hielt ihr die Strohhalme hin. »Der kurze Strohhalm ist der linke.«
Sie blickte in Garoths von Vir verdunkelte Augen, dann auf die Strohhalme und schließlich in die Augen ihres Gemahls. Es war ein unsterblicher Moment. Garoth wusste, dass der klagende Ausdruck in den Augen des Herzogs Trudana verfolgen würde, solange sie lebte. Der Gottkönig hatte keinen Zweifel daran, wie sie sich entscheiden würde, aber offensichtlich hielt Trudana sich der Selbstaufopferung für fähig.
Sie wappnete sich, streckte die Hand nach dem kurzen Strohhalm aus und hielt dann inne. Sie sah ihren Mann an, sah weg und zog schließlich den langen Strohhalm für sich selbst.
Der Herzog heulte auf. Es war zauberhaft. Das Geräusch durchstach jedes cenarische Herz im Hof. Es schien genau die richtige Tonhöhe zu haben, um die Botschaft des Gottkönigs zu verbreiten: Dies könntest du sein.