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Kindesmisshandlung und Vernachlässigung - Ein Handbuch

Günther Deegener, Wilhelm Körner (Hrsg.)

 

Verlag Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2005

ISBN 9783840917462 , 875 Seiten

Format PDF, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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70,99 EUR

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7. Das Münchhausen-by-proxy-Syndrom (S. 128-129)
Sabine Nowara

Der vorliegende Beitrag hat nicht primär zum Ziel einen (weiteren) Übersichtsartikel zu liefern, sondern stellt Fälle aus der eigenen Begutachtungspraxis vor, die aufzeigen sollen, wie vielschichtig die Münchhausen-Problematik sein kann, wie unterschiedlich die Symptome sind,mit denen Kinder vorgestellt werden, so dass deutlich wird, wie schwierig sich die Diagnostik im Einzelfall gestaltet und wie gravierend die Auswirkungen für alle Beteiligten sein können.

Immer wieder kommt es vor, dass Kinder mit unterschiedlichsten Beschwerden Ärzten vorgestellt und in Kliniken eingeliefert werden, für die keine organische Ursache gefunden werden kann oder bei denen die Beschwerden während des Aufenthaltes in der Klinik zurückgehen, jedoch im häuslichen Umfeld immer wieder – sogar verstärkt oder mit zusätzlicher weiterer Symptomatik – auftreten.
Meist findet sich in der Vorgeschichte, dass diese Kinder bereits verschiedentlich anderen Ärzten vorgestellt worden sind bzw. die Eltern mit der Therapie der gerade Behandelnden nicht einverstanden sind, so dass sie erneut die Therapeuten wechseln. Die Eltern – meist die Mütter – fallen in der Zusammenarbeit mit den Behandlern häufig dadurch auf, dass sie sich besonders konstruktiv und die Behandlung unterstützend verhalten sowie auch in schwerwiegendere Eingriffe vorbehaltslos einwilligen und/oder sie sogar einfordern.

1 Begriff und Erklärung des Münchhausen-by-proxy-Syndroms

Das Münchhausen-Syndrom ist eine Sonderform der so genannten artifiziellen Störungen. Als artifizielle Störungen wird eine Gruppe von Erkrankungen verstanden, die heimlich selbst induziert worden sind und deren „zentrale Problematik darin besteht, körperliche und/oder psychische Krankheitssymptome vorzutäuschen, zu aggravieren oder künstlich zu erzeugen, um auf diese Weise Aufnahmen in Krankenhäusern, medizinische Behandlung und insbesondere invasive Maßnahmen (Operationen, aufwändige diagnostische Eingriffe) zu erreichen" (Eckhardt-Henn, 1999). Beim Münchhausen-Syndrom stehen neben diesem künstlichen Herbeiführen oderVortäuschen von Krankheitssymptomen u. a. eine ausgeprägte Beziehungsstörung mit ständigen Beziehungsabbrüchen und Pseudologia fantastica im Vordergrund.

Wiederum eine Sonderform artifizieller Störungen stellt das Münchhausen-by-proxy- Syndrom dar. Hierbei verletzen sich die Personen nicht selbst, sondern – by proxy, also stellvertretend – ihre Kinder. Diese Störung ist nach Donald und Jureidini (1996) entscheidend durch eine komplexe Interaktion zwischen Mutter, Kind und Arzt definiert. Das Syndrom (MbpS) ist durch vier Merkmale definiert (Rosenberg, 1987, zitiert nach Noeker & Keller, 2002):

– Bei einem Kind liegt ein Beschwerdebild vor, das von einem Elternteil oder einer anderen Person, die für das Kind Verantwortung trägt, vorgetäuscht und/oder erzeugt worden ist.

– Das Kind wird zur medizinischen Untersuchung und extensiven Behandlung vorgestellt, häufig einhergehend mit multiplen Eingriffen.

– Die vorstellende Person verleugnet ihr Wissen um die Ursachen des Beschwerdebildes.

– Die akuten Symptome und Beschwerden bilden sich zurück, wenn das Kind von der Täterin getrennt wird.

Die erste entsprechende Publikation erfolgte von Roy Meadow im Jahre 1977. Er beschreibt eine Sonderform der Kindesmisshandlung, bei der Krankheitssymptome erzeugt oder manipuliert werden, aktiv ärztliche Hilfe aufgesucht wird und eine Vielzahl von medizinischen Prozeduren die Folge sind, die die volle Unterstützung der Eltern finden. Betroffen sind meist sehr junge Kinder (vgl. Keller et al., 1997). Täterinnen sind meist die Mütter. Die Väter sind – in den hier bekannten Fällen – nicht beteiligt, sondern überlassen die Kinder den Müttern. Sie selbst sind häufig von den Frauen abhängig und/oder fühlen sich ihnen unterlegen. Einige sind ihren Frauen intellektuell unterlegen, wenn sie es nicht sind, ordnen sie sich ihnen jedoch meist deutlich unter. Auf Konfrontation mit dem Verdacht reagieren sie zumeist mit Abwehr, stellen sich dann aber auf die Seite ihrer Frau. Keller et al. (1997) stellen in diesem Verhalten die Analogie zum sexuellem Missbrauch durch den Vater her, jedoch mit umgekehrter Rollenverteilung. Die Väter wollen das Verhalten der Frauen nicht wahrhaben und verschließen die Augen. In Einzelfällen wurden sie sogar der Komplizenschaft verdächtigt (Orenstein & Wassermann, 1986).

In einem durch die Autorin bearbeiteten Gutachtenfall kam es sogar zu der Verurteilung von beiden Ehepartnern, nachdem zunächst das erste Kind, später auch das zweite Kind immer wieder mit Knochenbrüchen unklarer Genese in der Klinik aufgenommen wurde. Bei der Frau wurde die Verdachtsdiagnose eines MbpS gestellt, während der Mann eine weit gehend unauffällige Persönlichkeit hatte. Die Frau leugnete die Taten vor Gericht. Der ebenfalls angeklagte Ehemann, der sich während der Geschehnisse häufig im Haus befunden hatte, wenn er auch nicht direkt anwesend war, sondern sich in einem anderen Raum aufgehalten hatte, räumte ebenfalls ein Verschulden nicht ein und erklärte, dass er sich ein solchesVerhalten bei seiner Ehefrau nicht vorstellen könne.

Das Gericht verurteilte daraufhin beide Ehepartner. Das Phänomen, dass die Manipulationen an einem anderen Kind fortgesetzt werden, wenn das zunächst betroffene Kind aus der Familie entfernt wurde, wird bereits bei Bools et al. (1992) beschrieben.