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Entspannungsverfahren in Therapie und Prävention

Günter Krampen

 

Verlag Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2013

ISBN 9783840924149 , 480 Seiten

Format PDF, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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42,99 EUR


 

1.1.1 Unsystematische Erholungsund Entspannungspräferenzen

Kulturgeschichtlich wurden Erholungsphasen und Entspannung zur Kräftesammlung selbst Leibeigenen und Sklaven zugestanden. Je freier der Mensch und Gesellschaften wurden, umso reichhaltiger und selbstbestimmter wurden die Möglichkeiten der gesellschaftlich zugestandenen, gleichwohl oftmals sozial normierten Erholung. Werden Menschen zu Beginn einer Einführung in das Autogene Training oder die Progressive Relaxation gefragt, was sie üblicherweise tun, um sich kurzfristig zu entspannen, sich zu erholen, um abzuschalten, so erhält man in der Regel viele Antworten, die auf den ersten Blick oftmals sehr unterschiedlich erscheinen, bei genauerer Betrachtung sich aber anhand weniger Oberbegriffe klassifizieren lassen. Manches von dem Genannten kann zudem im Lebensalltag nicht immer gemacht werden (wie etwa Dösen, Kurzschlaf, Spazierengehen, Tanzen, Joggen oder andere sportliche Aktivitäten etc.), manches setzt Hilfsmittel voraus, die nicht immer verfügbar sind (Musikhören, Buchlesen, Musizieren, mit dem Hund spazieren gehen etc.), anderes ist mehr oder weniger aufwendig (Sauna, Massage, Spa-Besuch etc.) oder aber kann – zumindest dann, wenn es häufiger und exzessiv betrieben wird – schädliche Auswirkungen haben (wie etwa Alkoholtrinken, Tabakrauchen, zu viel zu schnell essen etc.). Mit Ausnahme der zuletzt genannten, den potenziell schädlichen Entspannungsaktivitäten, sind all diese Verhaltensweisen solange sinnvoll und angemessen, wie sie als angenehm und als entspannend und erholsam erlebt werden. Als idiosynkratische Entspannungstechniken verbleiben sie aber im Unsystematischen (Vorwissenschaftlichen), da sie auf höchst individuellen persönlichen Erfahrungen basieren, nicht empirisch fundiert und in ihrer Wirkweise unklar sind. Dies zeigt sich spätestens dann, wenn sie in der konkreten Anwendungssituation versagen: Unsystematische Entspannungstechniken funktionieren nicht immer gleichartig positiv, der Ärger oder andere negative Emotionen können also nicht immer ausgeblendet werden, die gewünschte Entspannung und Erholung, das Abschalten von Belastungen gelingt nicht zuverlässig. Auch dann, wenn das kurzfristige Abschalten gelingt, treten kaum Langzeiteffekte auf, da es sich zumeist um kurzfristige, flüchtige Entspannungsund Erholungseffekte handelt.

Praxistipp für den Beginn einer Einführung Zu Beginn einer Einführung in das Autogene Training oder die Progressive Relaxation können die Teilnehmer etwa in der Vorstellungsrunde gezielt danach gefragt werden, was sie üblicherweise tun, um sich kurzfristig zu entspannen, um sich zu erholen, um abzuschalten. Die Antworten auf diese Frage können in der Gruppe nach der Durchführbarkeit der im Lebensalltag angewandten Entspannungsund Erholungspraktiken, dem zeitlichen Aufwand, der Anwendbarkeit in unterschiedlichen Lebenssituationen, der Notwendigkeit von Hilfsmitteln, ihrer potenziellen Schädlichkeit und der Zuverlässigkeit der Entspannungsund Erholungswirkungen besprochen und ggf. auch nach Verhaltensklassen geordnet werden. Dies kann sinnvoll auf die systematische Selbstbeobachtung, Protokollierung und Reflexion der im Alltag angewendeten Entspannungspraktiken (etwa für eine Woche oder zwei Wochen) ausgeweitet werden. Hilfsmittel und Anleitungen dafür finden sich im Manual des Programms zur Systematischen Selbstbeobachtung und Reflexion des Gesundheitsverhaltens (SySeRe-Programm; Krampen, 2011).

In der Psychologie werden unsystematische Erholungsund Entspannungspräferenzen im Lebensalltag vor allem im Kontext der Forschung zu Emotionen, Befindlichkeiten, Stress und Stressbewältigungsstrategien sowie der Forschung zur Tätigkeit in Beruf und Ausbildung in der Arbeitsund Organisationspsychologie und der darauf bezogenen Freizeitpsychologie empirisch untersucht.

Emotionsforschung zur Entspannung. In der Emotionsforschung stehen vor allem augenblickliche Befindlichkeiten (states) im Vordergrund, in deren breitem Spektrum Entspannung etwa im Mehrdimensionalen Befindlichkeitsfragebogen (MDBF; Steyer, Schwenkmezger, Notz & Eid, 1997) über Selbsteinschätzungen der jeweils akuten Anund Entspannung, Ausgeglichenheit, Ruhe und Unruhe usw. im Kontext von drei State-Skalen zu „guter – schlechter Stimmung“, „Wachheit – Müdigkeit“ und „Ruhe – Unruhe“ erfasst und untersucht wird. Bei der Eigenschaftswörterliste (EWL; Janke & Debus, 1978) erfolgt dies differenzierter für insgesamt 15 Befindlichkeitsaspekte, die nach Befindlichkeiten in den Bereichen (Superskalen) der leistungsbezogenen Aktivitäten, der allgemeinen Desaktivität, der Extraversion/Introversion, des Wohlbehagens, der emotionalen Gereiztheit und der Angst zusammengefasst werden können. Items, die Entspannung betreffen, sind mehreren dieser 15 EWL-Primärskalen und damit auch ihren sechs Sekundärskalen zugeordnet. Entspannung vs. Anspannung können also mit solchen Zustands-Skalen im Kontext anderer momentaner Befindlichkeiten vergleichend diagnostiziert werden.

Entspannung als Copingstrategie in der Stressforschung. In der u.a. auf Entspannung bezogenen Stressund Stressbewältigungsforschung wird der auf emotionale Zustände (states) bezogene Ansatz der Emotionsforschung zugunsten der Untersuchung habitualisierter Strategien im Umgang mit Stress (Copingstrategien) erweitert. In engem Konnex mit der Stressforschung (dort vor allem dem Aspekt des Distress; siehe oben) können so etwa mit dem Stressverarbeitungsfragebogen (SVF; Erdmann & Janke, 2008) bei Erwachsenen und dem Stressverarbeitungsfragebogen für Kinder und Jugendliche (SVF-KJ; Hampel, Petermann & Dickow, 2001) problemund emotionszentrierte Stressbewältigungsstrategien erfasst werden. Enthalten sind Subskalen zur „Entspannung“ bzw. zur „Ablenkung, Erholung“, die von den Autoren als günstige Stressverarbeitungsstrategien einer problemlösenden Bewältigung eingeordnet werden. Die Copingstrategie „Entspannung“ bildet zusammen mit den bedeutsam (um r = .50) korrelierten Subskalen zur „Ablenkung“, „Selbstbestätigung“, „Reaktionskontrolle“ und „Positive Selbstinstruktion“ ein Cluster günstiger Stressverarbeitung, das sowohl Aspekte der emotionsregulierenden als auch solche der problemlösenden Bewältigung umfasst. Ihre Markier-Items beziehen sich eindeutig auf Entspannungsverhalten (etwa „Wenn ich durch irgendetwas oder irgendjemanden beeinträchtigt, innerlich erregt oder aus dem Gleichgewicht gebracht worden bin, ...versuche ich, meine Muskeln zu entspannen, ...versuche ich, ganz ruhig und gleichmäßig zu atmen, ...denke ich an etwas, was mich entspannt.“). Entspannung und Erholung als Forschungsthemen der Arbeitsund Organisationspsychologie. In der arbeitsund organisationspsychologischen Forschung wird ähnlich wie in der Freizeitpsychologie die Thematik der Entspannung und Erholung spezifischer als in der allgemeiner orientierten Emotionsund Stressforschung im Kontext ihrer ausgleichenden Funktionen gegenüber der Arbeitstätigkeit untersucht. Empirisch analysiert werden die Zusammenhänge zwischen Arbeitsleistung und -belastungen, Freizeit, Erholung, Gesundheit und Befinden sowie die Frage, welche Freizeitaktivitäten für den Abbau von Belastungen und den Aufbau neuer Arbeitsenergien günstig sind. Binnewies und Hahn (2010; vgl. insbesondere auch Sonnentag & Fritz, 2007) fassen die Befundlage damit zusammen, dass bei großen interindividuellen Unterschieden in den bevorzugten konkreten sportlichen und sozialen sowie vor allem wenig anstrengenden und wenig arbeitsbezogenen Freizeitaktivitäten bedeutsame Bezüge zu deren Erholungswert und zum Wohlbefinden von Mitarbeitern bestehen. Das Erleben von Entspannung, das Abschalten von der Arbeit (psychological detachment), die Erfahrung selbstbestimmter Freizeitgestaltung (control) und das Erleben herausfordernder Freizeittätigkeiten (mastery) sind die vier Merkmale, die den Erholungswert der konkreten Freizeitaktivität bestimmen und mit dem Recovery Experience Questionnaire von Sonnentag und Fritz (2007) über jeweils vier Items erfasst werden können. Transkulturell stabil ist der Befund, dass dabei die Entspannung neben dem Abschalten von der Arbeit einen zentralen Stellenwert einnimmt (Epie, 2004; Fritz, Sonnentag, Spector & McInroe, 2010; Sonnentag, Binnewies & Mojza, 2008; Sonnentag & Fritz, 2007; Zijlstra & Cropley, 2006). Das Erleben von Entspannung und das Abschalten von der Arbeit am Feierabend sind nach Sonnentag et al. (2008) zudem signifikant positiv interkorreliert (r ??.50) und weisen beide statistisch bedeutsame Beziehungen zur Gelassenheit (r ? .30) sowie zu einer gering ausgeprägten negativen Stimmung am Morgen des folgenden Arbeitstages (r ? –.25) auf.

Entspannung als Thema der Freizeitund Erholungspsychologie. Sowohl in der Arbeitspsychologie als auch in der Freizeitund Erholungspsychologie werden auch die Funktionen und Effekte längerer Freizeitaktivitäten, die etwa am Wochenende oder im Urlaub unternommen werden, anhand der Konzepte des Erlebens von Entspannung und Ruhe, des Abschaltens von der Arbeit, der Erfahrung selbstbestimmter Freizeitgestaltung und des Erlebens herausfordernder Freizeittätigkeiten analysiert (vgl. etwa Blasche, 2008; Fritz & Sonnentag, 2006; Fritz et al., 2010). Ähnlich wie für das kurzfristige Verhältnis von Arbeit/Belastung und Erholung/Entspannung stehen auch für ihr längerfristiges, mehr oder weniger ausgeglichenes Verhältnis dabei die modern gewordenen Konzepte der work-life-balance bzw. life-balance, also die Zeitverteilung unterschiedlicher Aktivitäten über verschiedene Lebensbereiche, im Vordergrund der Forschung (vgl. etwa Gropel & Kuhl, 2006; Westman, Jones & Burke, 2006). In empirischen Untersuchungen zu Freizeitaktivitäten nimmt Entspannung neben dem Vergnügen die zentrale Rolle ein. Ältere Briten erleben beides etwa beim Spazierengehen, Musikhören und Segeln (Ball, Corr, Knight & Lowis, 2007), Amerikaner z. B. beim Bingo, Radiohören und Fernsehen (Tinsley & Eldredge, 1995). Spezifische empirische Studien analysieren und bestätigen Entspannungserleben aber etwa nicht nur für das Spazierengehen (vgl. auch Hartig et al., 2003) und Musikhören (Pelletier, 2004), sondern auch für Kaugummi kauen (Smith, 2009), Teetrinken (Surak, 2006), Alkoholkonsum (Devoulyte, Stewart & Theakston, 2006), Tabakrauchen (DiRocco & Shadel, 2007; Orosova, Geckova, Bacikova-Sleskova & van Dijk, 2008) und Schokoladeessen (Parker, Parker & Brotchie, 2006). In ihrem Literaturüberblick zu den emotionalen Effekten des Essens von Schokolade (sog. „Wohlfühlessen“ in Abgrenzung zum Nahrungsverlangen) kommen Parker et al.