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Mehrgenerationenfamilie und neuropsychische Schemata (Praxis der Paar- und Familientherapie, Bd. 6)
Peter Kaiser
Verlag Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2008
ISBN 9783840921315 , 237 Seiten
Format PDF, OL
Kopierschutz Wasserzeichen
2.2 Einelternfamilien (S. 35)
Stirbt ein Elternteil oder trennen sich Eltern, entstehen (zunächst) Einelternfamilien. Einelternfamilien sind daher meist durch schmerzliche Erfahrungen in oft kritischen Lebenssituationen ihrer Vorgeschichte gekennzeichnet. 5,3 Millionen Frauen (15,4 %) sind getrennt/geschieden und erziehen ihre Kinder alleine. 2,4 Millionen Kinder unter 18 (16,2 %) leben in Einelternfamilien. 10,1 % aller Kinder leben bei getrennten/geschiedenen, 6,1 % bei ledigen Müttern (BIB, 2005). Dabei haben die Kinder meist mehr oder weniger Kontakt zum Vater.
Die Vorgeschichte überfordert viele Betroffenen v. a. dann, wenn Bewältigungskompetenzen und sonstige Ressourcen fehlen (z. B. Belschner & Kaiser, 1981, Schmidt-Denter, 2000, Amato, 2000). Im Laufe der Zeit können diese Situationen bewältigt werden, wenn den Betroffenen eine Neuorientierung gelingt und die neuen Herausforderungen gemeistert werden.
Dennoch bleiben aufgrund der stressbedingten neuronalen Bahnungen meist lebenslange Spuren: Kritische Lebenssituationen erhöhen die statistische Risikobelastung für Entwicklung, Gesundheit und Lebenserwartung, je früher und je häufiger sie im Lebensverlauf vorkommen und je heftiger sie ausfallen. Man spricht hier von einem kumulativen Effekt auf Morbidität und Mortalität (Schepank, 1987, Schmidt-Denter, 1996, Amato, 2001, Kaiser, 1989, 2006a, Bauer, 2002, Gerhardt, 2004).
Trennen sich Partner mit Kindern, bleiben sie dennoch beide Eltern, werden Geschwister auseinander gerissen, bleiben sie gleichwohl Geschwister. So entstehen Loyalitätskonflikte, wenn ein Elternteil den Kontakt eines Kindes zum anderen Elternteil oder außerhalb lebenden (Halb-) Geschwistern nicht wünscht. Eine allein erziehende Mutter kann ihrem Kind die Beziehung zum Vater übel nehmen oder gar unterbinden, weil dieses sie an seinen Vater erinnert. Dies kann das Selbstwertgefühl und die Geschlechtsrollenidentität des Kindes bedrohen (vgl. Kasten, 1998). Haben Kinder getrennter Eltern zu unterschiedlichen Elternteilen bevorzugte Beziehungen oder leben sie bei diesen, kann dies auch ihre Ge- schwisterbeziehung bis hin zum Kontaktabbruch beeinträchtigen. Die Gründe sind v. a. in Loyalitätsproblemen aber auch räumlich-zeitlicher Distanz zu sehen. Manche getrennt lebenden Eltern ziehen mit voller Absicht weit vom Wohnort ihres Expartners weg, um diesem „zur Strafe" den Kontakt mit seinen Kindern abzuschneiden (Textor & Warndorf, 1995, Kaiser, 1995b, Bradbury & Karney, 1998, Amato, 2001, Beelmann & Schmidt-Denter, 2003, Amendt, 2005, Kaiser 2006a).
Hier sind besonders Kinder aus getrennten nichtehelichen Verbindungen gefährdet, da es oft kein gemeinsames Sorge- und Umgangsrecht getrennter nichtehelicher Eltern gibt und viele getrennte Mütter keinen Kontakt zwischen dem „Ex" und ihren Kindern wünschen. Ähnliches gilt dann für die Großeltern und andere Angehörigen väterlicherseits. Es ist daher eine wichtige therapeutische Aufgabe, betroffenen Kindern bei der Erhaltung eines eigenständigen Kontakts zu diesen behilflich zu sein. Diese Hilfe besteht u. a. darin, die mauernde Mutter und gegebenenfalls deren neuen Partner, aber auch den leiblichen Vater und dessen Familie entdecken zu lassen, wie wichtig kontinuierliche Bindungen für das Kindeswohl sind. In manchen Fällen mussten wir unsererseits versuchen, Kontakt zu Vätern und Müttern aufzunehmen, die sehr weit weg oder ins Ausland verzogen waren, um diese mittels mediativer Strategien zu bewegen, den Kontakt zu ihrem Kind nicht abreißen zu lassen (Amendt, 2005).