dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Im Liede wehet ihr Geist - Hölderlins späte Hymnen

Peter Horn

 

Verlag Athena Verlag, 2014

ISBN 9783898968089 , 310 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

18,99 EUR


 

Abendphantasie


Hölderlin hat seine Dichtung als zeitgebunden betrachtet: ihr Inhalt soll nach einer späten brieflichen Äußerung »unmittelbar das Vaterland angehen […] oder die Zeit«. (Br. 345; StA VI, 435) Damit ist aber nicht gesagt, dass Hölderlins Dichtung verschlüsselte tagespolitische Anspielungen enthält. Gerade weil er in der französischen Revolution eine Zeitenwende erblickte, die alles – auch die Dichtung – mit erfassen musste, kam es ihm weniger darauf an, kleine politische Änderungen in seiner unmittelbaren Umgebung in seiner Dichtung wiederzugeben, als den Horizont des gesamten Wandels abzubilden, der alles in seinen Strudel zog: die Politik, das menschlich soziale Zusammenleben, die Ökonomie, die Kultur, den Geist und die Religion. Hölderlin hatte daher ein »geradezu religiöses Verhältnis zur Revolution, in dem chiliastische Elemente der pietistischen Frömmigkeit deutlich mitschwingen.« Schon in der Zeit im Stift hat Hölderlin diese Einstellung zur Revolution entwickelt: »Die Stiftler versammelten sich in revolutionär gestimmten Bünden und Kränzchen, wo sie den Jahrestag des Bastillesturms feierten.« Das erscheint bei Lukács fälschlich als unpolitisch-verzweifelte Mystik. (Wackwitz 1985, 14 & 34)

Für Hölderlin galt eine wesentliche Einheit von Dichtung, Religion und gesellschaftlicher Veränderung. In der dichterischen Sprache emanzipiert sich der neue Mensch: Die dichterische Sprache bildet die republikanische Verfassung vor, die es in der politischen Welt noch zu verwirklichen gilt. Ein bewusster und begeisterter Sohn seiner Zeit, stand Hölderlin ganz auf der Seite der »Franzosen, der Verfechter der menschlichen Rechte« und war zumindest als Mitwisser an dem Plan, den Herzog von Württemberg zu stürzen und eine Republik in Schwaben zu gründen, beteiligt. Pierre Bertaux hat in seinen Analysen des Werks von Hölderlin nachgewiesen, dass Hölderlin dieser »jakobinischen« Gesinnung treu geblieben ist (auch wenn der Ausdruck »jakobinisch« zu Missverständnissen Anlass gibt) und vertritt den Standpunkt, dass Hölderlins ganzes Werk eine durchgehende Metapher der Revolution ist. Diese Auffassung wird zwar nicht von allen Hölderlinforschern geteilt, sie ist aber nach langer Ablehnung und nach dem Versuch, sie einfach zu ignorieren, heute jedenfalls diskutabel geworden. Auch Joachim Rosteutscher (1966, 15) sieht Hölderlins Schaffen von seinem Tübinger Aufenthalt bis zu den späten Hymnen »zu einem Großen Teil im Zusammenhang mit den welterschütternden Ereignissen der französischen Revolution und ihrer Folgen.« (Vgl. auch Delorme 1959)[1]

Im 2. Akt, 4. Auftritt der 1. Fassung des Dramas Empedokles von Hölderlin stehen Worte, die nicht nur das politische Vermächtnis des Empedokles, sondern auch das politische Programm Hölderlins zusammenfassen: »Schämet euch / Daß ihr noch einen König wollt. […] / Euch ist nicht / Zu helfen, wenn ihr selber euch nicht helft«. (FHA 13, 742) Die völlige Veränderung ist ein Wagnis, aber nötig, wenn eine gerechte Gesellschaft erreicht werden soll: »So wagts! was ihr geerbt, was ihr erworben, / Was euch der Väter Mund erzählt, gelehrt, / Gesez und Brauch, der alten Götter Nahmen, / Vergeßt es kühn«. Die neue Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Gleichen: »dann reicht die Händ’ / Euch wieder, gebt das Wort und theilt das Gut, / O dann ihr Lieben theilet That und Ruhm / Wie treue Dioskuren, jeder sei / Wie alle«. (FHA 13, 745)

Alles dies scheint zunächst ohne Beziehung zu diesem Gedicht. Die Abendphantasie spricht von genügsamen, gastfreundlichen, friedlichen Dorfbewohnern, geschäftigen Häfen und Städten mit der Geselligkeit des städtischen Wesens. Gesprochen wird über »Gesetze der wahren Menschlichkeit, zu denen auch die Gastfreundschaft als Prinzip des Friedens gehört.« (Keller-Loibl 1995, 175) Im Gegensatz dazu sieht sich der Dichter, der nie zur Ruhe kommt, der nie sich selbst in geselliger Freundschaft vergessen kann, der höchstens später einmal – im Alter nach ruheloser Jugend – eben die Friedlichkeit und Heiterkeit finden kann, die die von ihm beschriebenen Städter und Dörfer bereits jetzt zeigen. Eine völlig unpolitische Dichtung also, ein Gedicht, das der Auffassung von Bertaux widerspricht, dass Hölderlins ganzes Werk eine durchgehende Metapher der Revolution und ihrer Probleme ist. Hier haben wir es, so scheint es, zumindest ausnahmsweise einmal mit einem ganz und gar unpolitischen, einem durchaus privaten Gedicht zu tun.

Das Gedicht wurde im Jahre 1800 veröffentlicht. 1798 hatten zwei enge Freunde Hölderlins versucht, mit dem Sonderbeauftragten des französischen Außenministers Talleyrand, Théremin, auf dem Rastatter Kongress Verbindungen aufzunehmen: Neuffer und Sinclair, der offizieller Hessen-Homburgischer Gesandter bei dem Kongress war. Hölderlin besuchte ihn dort vom 21. bis 28. November 1798. Théremin berichtet darüber am 19. März 1799:

Ich habe in Karlsruhe, Stuttgart, Bruchsal, Heilbronn die Bekanntschaft mit den Häuptern der künftigen Insurrektion gemacht; ich habe in ihnen Männer gefunden, die mit mehr oder weniger Ungeduld den Einmarsch einer französischen Armee und die Erlaubnis zum Losbrechen erwarten.

Die französische Regierung, die damals aber den Frieden wollte, schickte den Gesandten Trouvé nach Stuttgart, um mit dem Fürsten zu einem Einvernehmen zu kommen. Das war Anfang 1799. Noch klammerten sich die südwestdeutschen Revolutionäre daran, dass beim ersten Kanonenschuss eines neuen Krieges die Republik doch noch zustande kommen würde. Doch am 16. März 1799 gab General Joubert in Württemberg bekannt, dass eventuelle revolutionäre Bewegungen in Südwestdeutschland von der französischen Armee unterdrückt werden würden. Die Revolution wurde abgeblasen. Eine schwäbische Republik würde es nicht geben.

In dieser Zeit muss Hölderlin sein Gedicht geschrieben haben. Hat er sich aus bitterer Enttäuschung nun der friedlichen Idylle zugewandt? Oder war sein revolutionärer Geist so oberflächlich, dass er sich nichts anderes wünscht als friedlich vor der Hütte im Schatten zu sitzen? War ihm das Schicksal seiner Mitverschworenen so gleichgültig, von denen nun ein Dutzend Verdächtige auf dem Hohenasperg eingekerkert wurden? So gelesen zeugte sein Gedicht von der bei Hölderlin unglaublichsten Gleichgültigkeit.

Es steht über dem Gedicht der Titel »Abendphantasie«. (FHA 5, 601) Gedichte verlangen, dass wir sie sehr viel genauer lesen als das landläufig üblich ist. Was ist denn nun an dem Gedicht »Fantasie«, und was heißt dieses Wort im Zusammenhang des Gedichts? Hölderlin, der ja nicht nur Griechisch kannte,[2] sondern dem Griechenland seine zweite geistige Heimat war, kannte natürlich den Unterschied von phantasia und phantasma, der uns in unserem heutigen sorgloserem Sprachgebrauch abhanden gekommen ist. Phantasma bedeutet das Traumbild, Trugbild, Schattenbild, das wir heute mit dem Wort Fantasie als einer uneigentlichen, unwirklichen Vorstellung verbinden. Fantasie heißt aber: die Erscheinung, das was sichtbar wird, vor allem das geistige Bild der Vorstellung. Was wir vor uns haben, ist also weder reale Beschreibung einer Idylle noch einfach ein Wunschbild, sondern ein dichterischer Entwurf: Entwurf einer neuen Möglichkeit zu leben. Aber Hoffnung ist enttäuschbar,

erstens, weil sie nach vorne hin offen ist, in Künftiges hin und nicht bereits Vorhandenes meint. Indem sie darum echt in der Schwebe ist, statt Wiederholung aufs Veränderliche setzt, hat sie mit diesem auch das Zufällige mit sich, ohne das es kein Neues gibt. Mit diesem Zufall, so unzureichend er auch bestimmt werden mag, ist das Offene zugleich auch offen-bleibend. So weithin mindestens, dass Hoffnung, die darin ihr Feld hat, mit Wagnis dafür zahlt, nicht auf dem Altenteil zu sitzen. Zweitens aber, eng damit zusammenhängend, muss Hoffnung enttäuschbar sein, weil sie auch als konkret vermittelte nie mit festen Tatsachen vermittelt sein kann. (Bloch 1962)

Abendphantasie beginnt mit einer idyllischen Szene, fragt dann nach dem Schicksal des Dichters, der sich als Außenseiter sieht, unter einem »blühenden Abendhimmel«, aber ausgeschlossen – »dunkel wirds und einsam« – und mündet in einen Ausblick auf ein friedliches und heiteres Alter. Mitten in den kriegerischen Zeitläuften, mitten in den schwankenden Hoffnungen einer Revolution entwirft der Dichter die Möglichkeit eines neuen Lebens, wenn auch nicht für sich selbst: »Vor seiner Hütte ruhig im Schatten sizt / Der Pflüger, dem Genügsamen raucht sein Heerd. / Gastfreundlich tönt dem Wanderer im / Friedlichen Dorf die Abendgloke. // Wohl kehren izt die Schiffer zum Hafen auch, / In fernen Städten, fröhlich verrauscht des Markts / Geschäfft’ger Lärm; in stiller Laube / Glänzt das gesellige Mahl den Freunden.«

Der Wanderer ist eine der wichtigsten Metaphern Hölderlins und steht für die Verfassung des poetischen Subjekts und seine essenzielle Fremdheit. (Hofmann 1996, 251) Er ist nicht Teil dieser Idylle des Pflügers und der Genügsamen, der Schiffer und der Kaufleute auf dem Markt, er ist ohne Zuhause, er wird nur »gastfreundlich« eingeladen, an der Idylle teilzunehmen. Die landschaftliche und menschliche Idylle ergreift uns unmittelbar, auch wenn wir nichts von den historischen Umständen wissen, aber ihren tiefsten Sinn verstehen wir dann erst, wenn wir wissen, dass es sich hier nicht um eine Flucht ins Unverbindliche handelt. Dieses Bild bekommt ganz andere Dimensionen, wenn wir hinter dem Bild auch die rousseauistisch-revolutionäre Komponente...