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Bildung und geistige Behinderung - Bildungstheoretische Reflexionen und aktuelle Fragestellungen

Oliver Musenberg, Judith Riegert

 

Verlag Athena Verlag, 2011

ISBN 9783898968133 , 328 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR


 

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Judith Riegert und Oliver Musenberg

Bildung und geistige Behinderung – zentrale Spannungsfelder und offene Fragen

Über das Verhältnis von Bildung und geistige Behinderung zu reflektieren ist nicht nur deshalb schwierig, weil »der« Bildungsbegriff für Menschen mit geistiger Behinderung bis in die jüngste Vergangenheit als »Bildungsunfähigkeit« oder »Schulbildungsunfähigkeit« lediglich die Exklusion von Bildung markierte, sondern vor allem aufgrund der generellen Unsicherheit, was heute überhaupt unter Bildung verstanden werden kann.

Bildung ist ein semantisches Schwergewicht, ein Begriff, der – trotz seines mittlerweile breiten Gebrauchs über die gesamte Lebensspanne von der frühkindlichen bis zur Altenbildung – im Alltagsverständnis vielleicht nach wie vor eher mit altsprachlichem Gymnasium, denn mit Kindergarten assoziiert wird. Bildung ist mit einem ähnlichen Konnotationshof ausgestattet wie der Begriff Kultur: »Während in ›Zivilisation‹ etwas Geselliges mitschwingt, liebenswürdiger Esprit und angenehme Manieren, ist ›Kultur‹ eine viel schwerblütigere Sache – nicht auf fröhlichem Du und Du mit der Welt, sondern kritisch und geistig hochfliegend. Entspricht ›Zivilisation‹ der Schablone vom Franzosen, so ›Kultur‹ dem Stereotyp vom Deutschen« (Eagleton 2001, 19). Ähnlich Bildung: ein als Selbstbildung der Subjekte bei Humboldt (1767–1835) mitunter recht einsam gedachtes Geschäft, das von jeglicher Kontamination durch gesellschaftliche Verwertungsinteressen fernzuhalten ist, um nicht auf das Niveau von Ausbildung oder Qualifikation zu sinken. Und tatsächlich wird stets darauf verwiesen, dass es sich bei Bildung um einen sehr deutschen Begriff handele, dem ein ebenbürtiges Äquivalent lediglich im russischen »Obrasovanie« begegne[1].

Der gerade beschriebene, zuweilen als elitär und historisch aufgeladen kritisierte Gebrauch des Bildungsbegriffs (so z. B. schon bei Theodor Litt 1959) bekommt seit einigen Jahren – insbesondere im Gefolge des kollektiven PISA-Schocks – eine vergleichsweise pragmatisch ausgerichtete Konkurrenz: Bildungspolitik und empirische Bildungsforschung: Erstere forciert seit PISA ein neues Steuerungsmodell, das sich an konkreten Kompetenzbeschreibungen und Bildungsstandards orientiert und diese in möglichst operationalisierter Form als Bildungsoutput messen will, um auf diese Weise Qualität zu entwickeln und zu sichern. Letztere liefert für dieses Vorhaben nicht nur das methodische Instrumentarium, sondern definiert zugleich – zumindest im Auge der Kritiker empirischer Bildungsforschung – die Spielregeln des Diskurses: »Empirische Forschungen definieren heutzutage des Gebiet des Sagbaren auf dem Feld des Pädagogischen. Was ihren regulativen Prozeduren nicht entspricht, wird als unwissenschaftlich ausgeschieden« (Meyer-Drawe 2008, 34). Diese Frontstellung von Bildungsphilosophie auf der einen und empirischer Bildungsforschung auf der anderen Seite wird wiederum, z. B. von Ricken (2006) als naiv beschrieben, »so dass eine entweder bloß empirisch oder philosophisch justierte Perspektivierung von ›Bildung‹ sich (über sich selbst) täuschen muss, wenn sie glaubt, sich entweder bloß auf Qualifikations- und Kompetenzprobleme begrenzen oder ein ›eigentlich Humanes‹ gegen vermeintlich ökonomisch-politisch bedingte Funktionalisierung zur Geltung bringen zu können« (2006, 18).

Die Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung zeigt sich bislang recht unbeeindruckt von beiden Richtungen, der bildungstheoretischen, wie der empirischen.

Dies mag auch damit zusammenhängen, dass die Sonderpädagogik ab den 1970er-Jahren – parallel zur »realistischen Wende« in der Erziehungswissenschaft – primär mit dem Begriff der Förderung operierte, der sich insbesondere im Anschluss an die 1973 verabschiedeten Empfehlungen des Deutschen Bildungsrats »Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher« etablierte und seitdem die Begriffe Bildung und Erziehung hinter sich gelassen hat und zum – nicht nur administrativen – Mega-Begriff der Sonderpädagogik aufgestiegen ist (Förderschwerpunkt, Förderbedarf, Förderplan, Förderschule, Förderpädagogik, individuelle Förderung usw.). Auch die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz verwenden in erster Linie den Begriff der Förderung. Dreher u. a. (2000) haben in ihrem Kommentar zu den Empfehlungen für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung auf die Problematik des Begriffs aufmerksam gemacht und Biewer kommt in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff zu dem Ergebnis, dass Förderung als Zentralbegriff der Heilpädagogik fehl am Platz sei (2006, 154). Mittlerweile wird in der Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung nicht mehr nur Förderung kritisiert, sondern verstärkt Bildung thematisiert und somit wiederum an den erziehungswissenschaftlichen und bildungstheoretischen Diskurs angeknüpft (vgl. Ackermann 1990; Stinkes 1999 u. 2008b; Klauß/Lamers 2003). Im Folgenden möchten wir auf ausgewählte theoretische, empirische, didaktische und politische Problemstellungen im Verhältnis von Bildung und geistiger Behinderung aufmerksam machen.

1 Zwischen allseitiger Bildung und Bildungsattrappe


Gegen die vermeintliche Bildungsunfähigkeit von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung wurde in der Gründungsphase der Geistigbehindertenpädagogik in den 1960er-Jahren die »praktische Bildbarkeit« (Bach 1995, 69) sowohl als Begriff, wie auch als Praxis etabliert: »Angesichts der Möglichkeiten der geistig behinderten Kinder ist die anzustrebende seelisch-geistig-praktische Erzogenheit und Bildung gekennzeichnet durch ihre Gebundenheit an die konkrete Lebenswelt und die einfachen, praktischen Aufgaben, die sie stellt« (ebd., 68). Mit Bach liegt hierin die Eigenart des Bildungsziels der »Schule für Geistigbehinderte«, so dass sich entsprechende Bildungsprozesse von denen der »Schule für Lernbehinderte« nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ unterscheiden (vgl. ebd.). Explizit warnte Bach vor einem Bildungsabglanz (ebd., 24), der durch überhöhte Ziele und eine zu enge Orientierung »am Unterricht traditioneller Art« (ebd., 69) hervorgebracht würde. Diese Betonung des Eigencharakters der »Schule für Geistigbehinderte« und der Zuschnitt des Bildungsbegriffs auf praktische Bildung stehen bereits seit längerem zu Recht in der Kritik (vgl. Feuser/Bohl 1984, 256).

Der didaktischen Reduktion auf das Lebenspraktische und die »aktive Lebensbewältigung« (KMK 2000, 266) wird z. B. mit Jan Amos Komenský (1592–1670) (lat. Comenius) der Anspruch entgegengestellt, dass »alle in allem allseitig (omnes, omnia, omnino) unterrichtet werden« (zit. n. Schaller 2004, 53) sollen. Das Postulat des »allen alles« aus der »Didactica Magna« wird in der Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung als (a-)historisches Exempel aufgegriffen, um auf die Notwendigkeit einer allseitigen Bildung für alle Kinder und Jugendliche, mit und ohne Behinderungen aufmerksam zu machen (vgl. Klauß/Lamers 2003):

»Der Bildung bedürfen in gleichem Maße 1. Die Schwachbegabten wie die Talentvollen. Es ist im allgemeinen zu zeigen, daß die Bildung für jeden nöthig ist. Schon wenn wir die verschiedene Beschaffenheit der Menschen betrachten, werden wir dieses finden. Denn wer möchte bezweifeln, dass die geistig Beschränkten zur Entfernung des natürlichen Stumpfsinnes der Unterweisung bedürfen?« (Comenius o. J., 47). An anderer Stelle heißt es, dass Schulen nicht nur eine Institution für die Kinder einiger Privilegierter, sondern allgemeine Sammelorte der Jugend sein sollen, und zwar ausnahmslos für alle, ob arm oder reich, Knabe oder Mädchen, ob auf dem Land oder in der Stadt. Auch »insbesondere, weil gewissen Menschen [den von Natur Schwachbegabten und Bösartigen] ganz besonders Beistand zu leisten ist. Dem steht nicht im Wege, daß einige von Natur schwach und stumpfsinnig sind; denn dies spricht vielmehr für die allgemeine Bildung der Geister und treibt dazu« (ebd. 56). Und weiter heißt es: »Ja, wie ein löchriges Gefäß, das, oft ausgespült, zwar kein Wasser hält, doch gesäubert und reiner wird: so werden auch die Stumpfsinnigen und Beschränkten, wenn sie auch in Kenntnissen keine Fortschritte machen, doch in ihren Sitten veredelt, dass sie der Staatsbehörde und den Dienern der Kirche zu gehorchen verstehen« (ebd., 56). Und Comenius beschließt den Absatz: »Niemand werde also ausgeschlossen, wenn ihm nicht Gott Sinn und Verstand versagt hat« (ebd.).

Liest man also nach den oft zitierten Passagen noch ein wenig weiter, so drängt sich der Verdacht auf, dass die sonderpädagogische Rezeption von Comenius vielleicht verkürzt sein könnte und mit der Didactica Magna weder die Ausnahmslosigkeit (omnes), noch die allseitige Bildung (omnia), um derentwillen Comenius von der Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung in den Zeugenstand gerufen wird, historisch fundiert werden kann.

Diese Einschränkung wird jedoch durchaus wahrgenommen (vgl. Klauß 2006) und es ist wohl legitim, das »Alle Alles« als Metapher einer allseitigen Bildung zu verwenden.

Dass sich das Verständnis lebenspraktischer Bildung nicht in der Zubereitung von Obstsalat und der Orientierung im öffentlichen Personennahverkehr erschöpfen muss, zeigt z. B. ein...